Marcus & Annilio – Römerregion Chiemsee

Marcus und Annilio - Abenteuer in der Römerregion Chiemgau

Einleitung

Vor 2000 Jahren sah unsere Region anders als heute aus. Der See war ein ganzes Stück größer, in den Mooren, Wäldern und an den Berghängen gab es Bären und Wölfe, und die Winter waren streng. Trotzdem lebten hier schon seit langer Zeit Menschen. Bereits viele Jahrhunderte, bevor die Römer an den Chiemsee kamen, hatten sich keltische Sippen in kleinen Dörfern angesiedelt. Um das Jahr 0 unserer Zeitrechnung wurde die Region durch das mächtige Römische Reich – so genannt nach seiner Hauptstadt Rom – unterworfen. Zwar gab es keinen Krieg, aber die vorher freie, keltischstämmige Bevölkerung musste nun Steuern an die römische Verwaltung zahlen. Ab dieser Zeit war unsere Gegend ein Teil der römischen Provinz NORICUM. Römische Siedler kamen und blieben. Die Region wurde ihre Heimat. Römische und keltische Kultur vermischten sich im Lauf der Zeit und die Menschen lernten voneinander. Die keltische Bevölkerung übernahm vieles von den römischen Siedlern, mit der Zeit sogar ihre Sprache. Schließlich wurde rund um den

Chiemsee Latein gesprochen. Die römischen Siedler bauten große Landgüter und neue Straßen. Für ihre Gutshöfe wählten sie Plätze mit einer Quelle oder einem Bach und einem guten Überblick über die Gegend, so dass sie schon von weitem sehen konnten, wer ihre

Besitzungen betrat. Auch in Bernau ließ sich ein mächtiger römischer Beamter nieder und erbaute am Fuß des Hitzelsbergs einen Gutshof im typisch römischen Stil.

Marcus ist der Enkel dieses Römers. Sein Großvater Lucius Terentius Verus entstammt einer bedeutenden römischen Familie. Er hat sich viele Verdienste im römischen Staatsdienst erworben und will in seinem Bernauer Gutshof den

Lebensabend genießen. Deshalb gibt es auf dem Anwesen alles, was für Römer zum guten Landleben gehört. Wie alle reichen Römer lässt sich Lucius Terentius Verus auch ein Badehaus mit warmem Wasser und Dampfbad bauen.

Marcus‘ Familie besitzt große Ländereien.

Praesentinus, muss sich um allerlei kümmern: um das Vieh, den Getreideanbau, um Ernte und Lagerhaltung, und, nicht zu vergessen, um den Handel mit seinen Waren.

Die Vorratshaltung besorgt Marcus‘ Mutter Iulia Romana. Vieles erledigen die Angestellten, einige davon Kelten, die sich in dieser Gegend besonders gut auskennen, aber auch Sklaven und Sklavinnen.

Eines Tages soll Marcus seinen Vater zu dem Oberhaupt einer keltischen Sippe begleiten. Caius Terentius meint, dass Marcus mit seinen neun Jahren alt genug sei, zu lernen, wie man feilscht und gute Geschäfte macht.

Die keltische Sippe wohnt in der Nähe des Sees und nennt sich „Bärensippe“.

Zwischen den Hütten laufen Hühner herum. Eine Gruppe von Kindern jagt mit lauten Schreien hinter einem kleinen Schwein her. Neugierig mustern die Dorfbewohner die zwei römischen Besucher. Ihr Anführer wohnt in einer großen Hütte in der Mitte des Dorfes. Er begrüßt Marcus‘ Vater wie einen alten Freund. Endlos reden die zwei Männer und trinken dabei Honigwein. Marcus sitzt folgsam dabei und versucht, den Gesprächen aufmerksam zu folgen. Doch nach einer Weile brummt ihm der Kopf und er schaut sich in dem großen Raum um. Da sieht er ein Mädchen, das ihm Zeichen macht. Sein Vater ist so in das Gespräch vertieft, dass er nicht merkt, wie Marcus sich davonstiehlt und dem Mädchen nach draußen folgt. Vor der Hütte wird Marcus mit Fragen überschüttet. Annilio ist die Tochter des Sippenchefs und sie brennt vor Neugierde auf alles, was mit dem römischen Leben zu tun hat. Schon öfter ist sie an dem Gutshof von Marcus‘ Familie vorbeigegangen und hat sich gefragt, wofür die vielen Gebäude da sind. Marcus ist verwirrt: So ein Mädchen hat er noch nie kennengelernt! Seine Schwester Claudia hätte sich nie getraut, einen Jungen aus dem keltischen Dorf mit Fragen zu löchern.

Kapitel I – Bernau

Baden auf römische Art

Ein paar Wochen später sehen sich die Kinder wieder. Annilio hat keine Ruhe gegeben, bis sie ihren Vater zum römischen Gutshof begleiten darf. Dort will er von seinem römischen Handelspartner Maultiere für den Transport von Handelswaren kaufen.

Während die Väter wieder einmal langatmige Verhandlungen führen, zeigt Marcus Annilio den Gutshof. Annilio kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. In dem römischen Gutshof am Hitzelsberg gibt es Gebäude, wo nur Tiere wohnen. In den Ställen stehen Rinder, Maultiere und sogar zwei Pferde. Es gibt ein Wohngebäude für die Familie von Marcus und eines für die Familie des Verwalters. Daneben stehen Wirtschaftsgebäude und ein Badehaus.

Das Badehaus interessiert Annilio am meisten. Sie kann sich nicht vorstellen, dass man ein eigenes Haus nur zum Baden braucht. Bei ihnen gehe man in den Bach zum Waschen, erklärt sie Marcus. „Und außerdem ist der große See ganz in der Nähe. Es macht großen Spaß, im See zu schwimmen! Wenn mein Bruder mitkommt, darf ich immer schwimmen gehen.“ Ihre Leute wohnten gerne neben einem Fluss oder einem See, erklärt sie Marcus, „so haben wir Wasser zum Fischen und zum Baden und müssen kein Haus dafür bauen”.

„Komm mal mit“, sagt Marcus und führt sie quer über den Hof zu einem kleinen

Gebäude. „Ich habe Mama gebeten, das Badehaus anheizen zu lassen. Du wirst staunen! Schau, da unten wird Feuer gemacht”, Marcus zeigt auf eine kleine Treppe neben dem Badehaus. „In dem großen Ofen werden jede Menge dicke

Buchenscheite verbrannt, damit heiße Luft nach oben steigt und das Wasser und die Räume erwärmt. Warte mal ab, wie schön warm wir es oben im Bad haben, das ist was ganz anderes als dein See.”

Als er die Tür öffnet, duftet es nach Kräutern, und leichter Dampf zieht aus der Tür. „So”, sagt Marcus, „als erstes müssen wir unsere Füße waschen und uns umziehen, bevor wir weitergehen. Hier ist der Umkleideraum oder wie wir sagen, das Apodyterium.“ In dem Raum wartet bereits eine Dienerin mit gestreiften Tüchern über dem Arm auf die Kinder. Sie schickt Marcus hinaus und zeigt Annilio, wie sie sich ein Tuch eng um den Körper binden und ein zweites darüber wickeln kann. Dann nickt sie zufrieden und ruft Marcus wieder herein. „Eigentlich baden bei uns Männer und Frauen getrennt, aber wir Kinder dürfen miteinander ins Bad. Außerdem war Mama einverstanden, weil dein Vater das Sippenoberhaupt ist und weil Tulia auf uns aufpasst“ flüstert Marcus und öffnet eine weitere Tür. „Komm”, ruft er Annilio zu. Hinter der Tür liegt ein Raum mit einem kleinen flachen Becken.

Annilio teste die Wassertemperatur im Becken vorsichtig mit dem großen Zeh. „Uh”, ruft sie, „das ist aber kalt!”

„Ja”, grinst Marcus, „das ist ja auch das Frigidarium, da ist kaltes Wasser drin.” Über eine Treppe steigen sie hinein, bis ihnen das Wasser an die Oberschenkel reicht: ein bisschen unangenehm am Anfang, aber auch erfrischend, schließlich ist es draußen warm. Am Beckenrand liegt ein Holzlöffel. Marcus erklärt, dass sein Vater und Großvater sich damit immer kaltes Wasser über Kopf, Rücken und Brust laufen lassen. „Zur Abhärtung“ sagt Marcus, taucht den Löffel ins Wasser und gießt es sich über den Kopf. Annilio ist schwer beeindruckt von dem römischen Jungen und vergisst kurzzeitig, dass ihr Vater und ihr großer Bruder Ario sich sogar im Winter im Bach mit eiskaltem Wasser waschen. „Das reicht”, fröstelt Marcus, „jetzt gehen wir weiter in den nächsten Raum, du wirst staunen!” Er öffnet eine dicke Holztür. „Das ist unser Caldarium”, sagte Marcus stolz. Die Kinder betreten einen Raum mit farbigen Fischen an den Wänden. In der Mitte liegt ein großes Becken, in das von allen vier Seiten Treppen führen.

Annilio streckt wieder den großen Zeh in das Becken. „Uh”, ruft sie, „echt warm!” So etwas hat sie noch nie gesehen, einen künstlichen warmen Teich!

Als die Kinder vom Plantschen in dem warmen Wasser müde werden, setzen sie sich auf eine der Bänke, die an den Wänden stehen. Aus dem Becken steigt Dampf auf, der wunderbar nach Kräutern riecht, findet Annilio. „Von dem Dampf wird mir ganz schwitzig“, sagt sie zu Marcus.

„Schwitzen gehört bei uns zur Reinigung dazu“, erklärt ihr der Junge. „Die Erwachsenen lassen sich auch noch mit Öl einreiben und mit einem Spatel abstreifen.“ Annilio ist ein bisschen schwindlig vor lauter Wärme und Wohlgefühl und sie mag zunächst Marcus gar nicht folgen, als er zu der Tür am anderen Ende des Raumes geht. „Komm, jetzt wird es wieder etwas kühler”, sagt Marcus und öffnet die Tür. „Das ist das Tepidarium, der letzte Raum, hier kannst du dich entspannen.“

„Mmm, das ist angenehm hier”, seufzt Annilio. Sie setzt sich auf die eine Bank, Marcus auf die zweite. Annilio räkelt sich, „hier könnte ich ewig bleiben”. Es duftet nach Lavendel.

„Kinder, nun ist es genug!“ ermahnt die Dienerin sie nach einer Weile. Die Kinder waschen sich das Gesicht und die Arme in der Wasserschale, die in der Raummitte auf einem Sockel steht. Marcus verschwindet. Die Dienerin hilft Annilio, die Tücher aufzuknoten. Dann schlüpft Annilio wieder in ihre eigene Kleidung, die sich ein bisschen rau anfühlt nach den weichen Tüchern. Nur widerwillig reißt sich das Mädchen von dem herrlichen Badehaus los.

„Mal sehen, ob unsere Väter endlich fertig sind mit ihren Geschäften“, sagt Marcus zu Annilio, als sie aus dem Badehaus kommen, und zwinkert ihr zu.

Kapitel II – Prien

Ein Ausflug auf dem See

Der Sommer beschert der Gegend in diesem Jahr sehr heiße Tage. Annilio hat von Marcus erfahren, dass er schon öfter auf dem See Rudern war. Das will sie auch! Jedes Mal, wenn die Kinder sich treffen, versucht sie Marcus zu überreden, mit ihr rudern zu gehen. Endlich lässt er sich erweichen.

An einem schönen Sommermorgen machen sich die Kinder auf den Weg zu der Bucht, die am westlichen Seeufer gegenüber der großen Insel liegt. Dort haben einige Fischer ihre Einbäume liegen. Mit einem kleinen Fuhrwerk, das von einem Knecht gelenkt und von einem kräftigen Pferdchen gezogen wird, ziehen sie los. Schon von weitem sehen sie, dass einige Boote auf dem See sind.

„Die Fischer werden bald an Land kommen, dann besorge ich uns einen Einbaum.

Der Fischer, mit dem Vater immer Geschäfte macht, hat sein Boot schon meinem

Vater geliehen. Wenn ich ihm sage, dass ich Marcus, Sohn des Caius Terentius Praesentinus bin, dann wird er es mir schon geben.“ Insgeheim ist sich Marcus gar nicht so sicher, aber das will er Annilio nicht verraten. Dann fällt ihm etwas sehr Wichtiges ein. „Kannst du überhaupt richtig schwimmen?“ Sorgenvoll schaut er das Mädchen an und ist sehr erleichtert, als es nickt.

„Mein Bruder Ario hat mir das Schwimmen beigebracht, Vater meint, am See müsse jeder schwimmen können. Und du?”

„Na klar“, sagt Marcus mit einem Schulterzucken, „hat mir mein Onkel Lucius Terentius Verinus gelernt. Onkel Lucius wohnt am Meer. Einmal hat mich mein Vater auf die lange Reise über die Berge zu meinem Onkel mitgenommen.”

Annilio schweigt beeindruckt. Als die Kinder die Bucht erreichen, zieht ein Fischer gerade seinen Einbaum an Land.

„Guten Morgen”, spricht ihn Marcus an und versucht, erwachsen und männlich auszusehen.

„Guten Morgen, mein Herr“, antwortet der Fischer.

„Du kennst mich?”, fragt Marcus.

„Ja mein Herr”, antwortete der Fischer, „Ihr seid Marcus, Sohn des Caius Terentius Praesentinus aus dem nahen BERUNUM.”

„Ja, genau, und wir wollen deinen Einbaum ausleihen“, sagt Marcus.

„Könnt Ihr überhaupt damit umgehen?” Der Fischer runzelt die Stirn.

„Natürlich”, grinst Annilio. Der Fischer blickt verdutzt auf das rothaarige vorlaute Mädchen. Als der Knecht dem Fischer ein paar kleine Münzen in die Hand drückt, lässt sich der Fischer überzeugen und hilft den Kindern, das Boot ins Wasser zu schieben. Zwei geschwungene Paddel liegen im Inneren des Einbaums.

Marcus hat einen Sack mitgenommen. „Schau”, sagt er zu Annilio, „da ist ein Netz und eine Schnur mit Angelhaken und ein paar Ködern drin.”

Doch Annilio hat nur Augen für das Boot. Endlich rudern! Sie kniet sich in den Bug und Marcus muss mit dem hinteren Platz vorliebnehmen. „Los geht’s“, juchzt sie und lenkt in Richtung des Schilfgürtels, der sich entlang der Bucht zieht. „Dort gibt es die größten Fische.“

„Wenn du meinst”, brummt Marcus hinter ihr, „dann probieren wir unser Glück.” Es ist gar nicht so einfach, in dem wackligen Einbaum das Gleichgewicht zu halten. Auch dauert es eine ganze Weile, bis die beiden einen gemeinsamen Rhythmus finden und einigermaßen geradeaus fahren.

„Ist unser Land nicht wunderschön”, strahlt Annilio und zeigt auf die Berge vor ihnen.

„Ja, schon”, stimmt Marcus zu, „am Meer, bei meinem Onkel, da gefällt es mir auch gut, aber hier ist es noch schöner.“

Die Kinder schauen noch eine ganze Weile Richtung Berge. Annilio zeigt auf die Berggipfel und flüstert mit Ehrfurcht in der Stimme die Namen der Berge.

Plötzlich fällt Marcus ein, dass er fischen wollte. Er kramt in seinem Sack und holt eine lange Schnur mit Haken und eine Holzdose mit weißen Maden heraus. Annilio beobachtet angeekelt, wie er eine Made auf den Haken steckt.

„Wie die zuckt, schau mal.“ Sie schüttelt sich.

Markus holt aus und schleudert den Haken in das Wasser nahe dem Schilf. „So, jetzt heißt es warten”, sagt er leise. Annilio nickt. Gespannt schauen sie ins Wasser. Plötzlich ruckt die Schnur und Marcus muss sie festhalten, damit sie ihm nicht aus der Hand gerissen wird. Langsam wickelt er die Schnur auf. Endlich ist der Fisch zu sehen. Eine kleine Renke hat angebissen. Marcus zieht sie aus dem Wasser und wirft sie in einen Flechtkorb, den der Fischer für die Kinder im Einbaum gelassen hat. „Nicht schlecht”, nickt Annilio. Jetzt ist sie dran, aber sie will nicht mit den ekeligen Maden angeln, sie nimmt lieber das Netz. An dem Netz sind Gewichte befestigt, damit es im Wasser nach unten sinkt. Annilio holte Schwung und wirft das Netz aus. Das Seil zum Einholen des Netzes hält sie konzentriert fest. Langsam sammeln sich im Wasser ein paar kleine Fische über dem Netz. Marcus macht Annilio Zeichen, dass sie das Netz herausziehen soll, aber sie schüttelt den Kopf. Das Mädchen wartet, bis sich ein paar größere Fische zeigen und zieht dann mit einem Ruck an der Leine. Das Netz zieht sich zu. „Hab‘ euch“, ruft es und holt das Netz mit zwei

Fischen ins Boot, mit einem Karpfen und einem jungen Hecht. „Na”, Annilio schaut zu

Marcus hinüber, „auch nicht schlecht, oder?”

Der Junge nickt anerkennend. Sein Vater sagt, dass die keltischen Männer geschickte Jäger und Fischer seien. Annilio ist zwar ein Mädchen, aber sie ist auch nicht schlecht. Sie kann richtig gut fischen. Seine Schwester Claudia wäre wahrscheinlich schon ein paarmal ins Wasser gefallen.

Die Sonne steht hoch am Himmel, als sich die Kinder auf den Heimweg machen.

Annilio gibt ein schnelles Tempo vor, Marcus kommt kaum mit dem Rudern nach.

Nahe einer Flussmündung zeigt Annilio auf Holzstämme und Schilfgeflechte. „Schau”, sagt sie zu Marcus, „so fischen meine Leute, wir bauen Reusen. Die Fische schwimmen in die immer enger werdenden Röhren und kommen nicht mehr hinaus.

Wir brauchen dann nur noch das Netz zu leeren.”

Am Ufer angekommen, springen die Kinder in das flache Wasser. Der Fischer ist sichtlich erleichtert, die Kinder wohlbehalten zurück zu sehen und zieht seinen Einbaum an Land. Der Knecht schläft unter dem Fuhrwerk, das Pferdchen ist angepflockt und grast. Die Kinder wecken den Mann, indem sie ihm einen Fisch unter die Nase halten. Bei dem starken Fischgeruch ist er sofort wach. „Na, da wart ihr ja richtig erfolgreich“, beglückwünscht er die Beiden.

Auf der Heimfahrt überlegt Marcus, was er mit seinen Fischen anfängt „Ich gebe die Fische unserem Koch. Er soll einen Auflauf mit der leckeren Fischsoße Garum machen, die mein Vater immer aus IUVAVUM mitbringt.“

„Ich will meine Fische auf einen Holzspieß stecken und über dem Feuer braten”, plant Annilio. Das wird Marcus auch einmal ausprobieren. Denn wie es sich für einen Römer aus guter Familie gehört, isst er Fisch sehr gerne.

Kapitel III – Bergen

Das beste Eisen der Welt

Die Ernte ist in vollem Gange, alle Bewohner des Landguts von Lucius Terentius Verus arbeiten von morgens bis abends. Marcus ist heute nicht mit auf die Felder gefahren, weil sein Hauslehrer ihm Unterricht in Grammatik und Mathematik gegeben hat. Jetzt ist es Marcus so langweilig, dass er seine alte Steinschleuder ganz unten aus der Kiste geholt hat und auf einen verbeulten Eiseneimer schießt. „Klong“, getroffen! „Plupp“, der Stein landet im Gras.

„Plupp“, Mist! „Klong“ und nochmal „klong“. Das ist ein Spiel für kleine Kinder, der dumme alte Eimer ist viel zu einfach zu treffen. Marcus kickt unentschlossen einen Stein mit dem Fuß vor sich her.

Da hört er Hufgetrappel. Ein Reiter kommt durch das offenstehende Tor in den Hof geritten. „Salve. Ich habe Nachrichten für Caius Terentius Praesentinus“, ruft der Reiter und springt aus dem Sattel. Marcus führt ihn in das Haus zum Vater. Der sitzt gerade über seinen Wachstafeln und rechnet. „Seid gegrüßt Caius, Sohn des Lucius Terentius Verus, ich habe Nachrichten für Euch.“ Mit diesen Worten holt der Reiter aus seinem Ranzen mehrere Wachstafeln und eine Papyrusrolle.

„Ich danke Euch.“ Der Vater legt die Tafeln und die Rolle auf sein Pult und holt aus einem Lederbeutel, den er am Gürtel hängen hat, einige Münzen heraus. Der Reiter zählt die Münzen und verbeugt sich mit zufriedenem Lächeln.

„Möge Bedaius Euch gewogen sein, edler Caius Terentius Praesentinus.“ Marcus hört, wie der Reiter sein Pferd ruft. Kurze Zeit später ertönt wieder Hufgetrappel.

Marcus‘ Vater deutet auf die Papyrusrolle. „Schau Marcus, das ist das Siegel deines Onkels. Was mag wohl so wichtig sein, dass er es mir auf einem Papyrus schreibt?“ Mit diesen Worten greift Caius zu der Rolle, die mit einem dicken roten Siegel verschlossen ist. Er bricht das Siegel, rollt das steife Blatt auf und hält es Marcus hin. „Jetzt zeig mal, was du gelernt hast.

„Lieber T …, nein, das heißt B … Bruder“, liest Marcus vor. „Ich b … brau … brauche …“

„Was braucht Lucius? Zeig mal her.“ Der Vater nimmt ungeduldig die Papyrusrolle aus Marcus‘ Händen. „Das ist ja wirklich schwer zu lesen. Da hat mein Bruder einen schlechten Schreiber beauftragt. Komm, lass mich weiterlesen.“ Er studiert den Papyrus. „Ich brauche ein besonders gutes Schwert, um unseren Statthalter gnädig zu stimmen. Er muss seine Zustimmung geben, dass ich meinen Fernhandel ausdehnen darf. Kannst du mir ein Schwert aus dem sagenhaften norischen Eisen besorgen? In euren Dörfern gibt es Schmiede, die solche Schwerter schmieden können, habe ich gehört. Ich schicke dir das Geld, sobald ich Nachricht von dir habe.“

Marcus freut sich. Norisches Eisen! Sie würden in das Dorf von Annilio gehen, denn dort gibt es einen keltischen Schmied.

Doch als sie am nächsten Morgen zu Ateualus, Annilios Vater, reiten, erfahren sie, dass sich der Dorfschmied den Arm gebrochen hat, als er einen wildgewordenen Stier bändigen wollte. „Der kann so bald keinen Hammer mehr schwingen“, meint

Ateualus. „Ich mache Euch einen Vorschlag. Eine Sippe, die Richtung Osten am

Bergrand wohnt, hat einen Schmied, der weithin bekannt ist für seine

Schmiedekunst. Wenn ich ein gutes Wort für Euch einlege, wird er sicherlich für Euch arbeiten.“ Und so kommt es, dass Marcus und sein Vater gemeinsam mit Annilio und ihrem Vater an den Abhängen der Berge entlang Richtung Osten reiten. Auf dem Weg müssen sie die wilde Ache an einer flachen Stelle überqueren. Marcus schaut zu Annilio. Die scheint keine Angst vor dem Fluss zu haben. Marcus hingegen ist sehr erleichtert, als sein Pferd am gegenüberliegenden Ufer ankommt. Als sie über eine Hügelkette reiten, sehen sie vor sich Rauchsäulen aufsteigen.

„Da brennt es! Schnell, wir müssen helfen“, ruft Marcus und treibt sein Pferd an.

Annilio lacht. „Warte mal! Der Rauch kommt von den großen Feuern, mit denen die Sippe das Eisen aus dem Steinen schmilzt. In den Bergen neben dem Dorf gibt es diese besonderen Steine.“

Am Fuße eines Berghangs liegt endlich das keltische Dorf vor ihnen. Neben den Hütten fließt ein munterer Bach vorbei. Mehrere Rauchsäulen steigen von kleinen Hügeln am Dorfrand auf. Schon von weitem hören sie lautes rhythmisches Schlagen von Eisen auf Eisen. „Bellicius, der Schmied ist da, unüberhörbar. Gut, dann schauen wir mal, ober er bereit ist, Euch ein Schwert zu verkaufen“, sagt Annilios Vater und lenkt die kleine Gruppe in die Mitte des Dorfes.

Das Schlagen wird immer lauter, und durch den Rauch sehen sie eine große Gestalt im Feuerschein. Je mehr sie sich nähern, umso heißer wird es. „Ein Riese”, flüstert Marcus Annilio zu, die schon wieder kichern muss. Warum müssen Mädchen immer kichern? Marcus hat Geschichten von den Riesen im Norden gehört, aber bis jetzt ist er noch nie einem leibhaftig begegnet. Bellicius scheint nur aus Muskeln zu bestehen. Mit einem riesigen Hammer schlägt er immer wieder auf ein glühendes Stück Eisen ein, das er mit einer Zange hält. Zwischendurch taucht er das Eisen in Wasser, so dass es zischt und dampft, oder hält es in das Feuer, dann schlägt er wieder mit dem Hammer darauf ein.

“Er ist einer der besten Schwertschmiede weit und breit”, sagt Annilios Vater stolz.

„Niemand versteht es so gut, Eisen zu schmieden, wie unsere norischen Schmiede.“

Marcus kennt die Geschichten von unzerstörbaren Waffen, so scharf, dass man mit ihnen Baumstämme mit einem glatten Schnitt durchtrennen kann und so hart, dass sie sich selbst bei einem Schlag auf Stein nicht verbiegen.

Als ihn Annilios Vater anspricht, steckt der Schmied seinen Hammer in den Gürtel. Die Kinder beobachten gespannt, wie die drei Männer verhandeln. Auf einmal schlägt der Schmied seine riesige Faust gegen einen Holzbalken, ruft etwas, dreht sich um und verschwindet mit großen Schritten in der Hütte. Bevor die Kinder fragen können, was los ist, taucht er wieder auf mit einem silbrig glänzenden Schwert in seinen Händen. Er schwingt das Schwert durch die Luft - „sirrrrr“ - und teilt ein dickes Holzscheit mit einem schnellen Schwertschlag. Dann dreht der Schmied sich um und schlägt mit dem Schwert gegen die gemauerte Feuerstelle.

„Bravo!“ Annilio klatscht in die Hände. Sie streckt dem Schmied die Hände entgegen. „Bitte, Bellicius ich will es auch mal halten.“ Da lächelt der der riesige Bellicius und überreicht dem Mädchen vorsichtig das Schwert. Annilio hält Marcus die Waffe hin. „Jetzt kannst du nachsehen, ob du Kratzer auf der Klinge findest.“ „Nichts! Die Klinge ist blank wie poliertes Silber!“ Marcus ist sehr beeindruckt.

Marcus‘ Vater nickt zufrieden. Er holt aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel Silbermünzen und zählt eine nach der anderen dem Schmied in die Hand, bis dieser nickt. Um das Geschäft zu besiegeln, holt der Schmied Honigwein und drei Trinkhörner aus der Hütte.

Wenn Erwachsene trinken, wird es langweilig, denken sich die Kinder und gehen den Rauchsäulen nach. Am Rand des Dorfes liegen rötliche Steine in riesigen Haufen. „Das sind die Steine, in denen Eisen drin ist. Man erkennt sie an der rötlichen Farbe“, erklärt Annilio Marcus. Nahe dem Bach sehen sie mehrere rauchende Erdhügel. „In den Hügeln wird aus Holz Kohle. Die braucht man, um aus den Steinen das Eisen zu schmelzen.“ Überall steigt Rauch auf und es riecht nach Feuer.

Marcus fühlt sich, als wäre er in einer anderen Welt. Hier scheinen alle mit der Herstellung von Eisen zu tun zu haben, selbst Kinder schleppen Steine oder Kohlen, so genau kann Marcus das nicht sehen. „Wenn ich ein Mann bin, kaufe ich mir hier ein Schwert“ beschließt er für sich. Abends, auf dem Heimweg, ist Marcus sehr schweigsam. Im Geheimen stellt er sich vor, wie er als unbesiegbarer Centurio mit seinen Truppen in fernen Ländern mit Zauberschwertern aus norischem Stahl kämpft und wie Annilio ihn bewundernd anlächelt, wenn er siegreich zurückkehrt.

Kapitel IV – Pittenhart

Ein uraltes Heiligtum

Die Felder sind abgeerntet, die Ernte ist eingefahren. Äpfel und Nüsse lagern auf Regalen im Vorratsspeicher des Gutshofs von Lucius Terentius Verus. Am Boden stehen große Holzfässer, in denen gestampftes Weißkraut vermischt mit

Salz zu Sauerkraut wird. Marcus findet den Geruch scheußlich, der aus den

Fässern steigt. Neben den Sauerkrautfässern hängen Ketten von Schweinewürsten. Daneben sind die letzten Trauben zum Trocknen ausgebreitet.

An einem trüben Oktobertag kommt Annilio mit ihren Brüdern Matulus und Ario und ihren Eltern zu Besuch in den Gutshof. Caius Terentius und Ateualus, die Väter, wollen die erfolgreichen Geschäftsbeziehungen mit einem guten Essen feiern. Annilios Vater hat für die Hausherrin kostbare Geschenke erstanden: eine große Gewandfibel, einen gelben und einen blauen Glasarmreif. Auch hat er es sich nicht nehmen lassen, für das Festmahl ein erlegtes Reh und einen großen Hecht mitzubringen. Marcus‘ Vater hat in IUVAVUM einen Ballen gewebten Wollstoff und eine Tonschüssel mit Jagdszenen darauf als Geschenk für Ategenta, Annilios Mutter, gekauft. Im Speisesaal des Gutshofs ist der Tisch gedeckt. Um den Tisch stehen keine Stühle, sondern Liegen, genannt Klinen. Die Familie von Marcus zeigt Annilios Familie, wie sie sich nach römischem Brauch zum Essen seitlich auf die Klinen legen können. Dann bringen Dienerinnen einen Gang nach dem anderen. Annilio meint, ihr platze gleich der Bauch, soviel gibt es zu essen.

Nach dem Festmahl sprechen die Eltern darüber, dass sie den Göttern gemeinsam ein Dankesopfer für das gute Jahr und die reichen Erträge bringen wollen, denn Frühling und Sommer waren warm und fruchtbar in diesem Jahr.

„Sag Ategenta, gibt es nicht auf der gegenüberliegenden Seite des großen Sees einen Ort, an dem Römerinnen und Keltinnen aus der Gegend gemeinsam zu den ewigen Müttern beten?“, wendet sich Marcus‘ Mutter an Annilios Mutter. „Die

Erdgöttin und alle Muttergottheiten verdienen unseren Dank.“

„Du meinst den Hügel der Alaunen, unserer heiligen Stammesmütter“, strahlt Annilios Mutter. „Was für eine wunderbare Idee, dort gemeinsam Dankesopfer zu bringen!“ Die Väter nicken zustimmend. Somit ist es entschieden: Die Familien verabreden eine gemeinsame Reise.

Früh am Morgen geht es los. Die Reisegesellschaft muss in einem weiten Bogen die Moore um den See umfahren, deshalb brechen Annilio und Marcus mit ihren Eltern schon im ersten Morgengrauen mit einem Wagen auf, vor den zwei Pferde gespannt sind. Über dem See und den Wiesen liegt Nebel. Nur mühsam ist der Weg zu erkennen. Selbst gegen Mittag ist die Sonne kaum zu sehen, es ist feucht und kalt. Die Kinder wickeln sich fest in ihre Pelze ein, frieren aber trotzdem.

„Kennst du den Platz, zu dem wir fahren?“, fragt Marcus Annilio.

Annilio schüttelt den Kopf. „Keine Ahnung. Mama hat mir noch nie von diesem Hügel erzählt.“ Neugierig deutet sie auf den prall gefüllten Stoffbeutel, den Marcus auf dem Schoß hält. „Was willst du denn den Alaunen alles opfern?“

„Ich war im Vorratsspeicher bei uns zuhause und habe Äpfel, Nüsse und Rosinen eingepackt. Von unserem Koch habe ich noch fünf kleine Dinkelkuchen bekommen“ sagt Marcus, „und was hast du dabei?“

Annilio zieht ein kleines Stoffbeutelchen aus ihrem Gewand. „Ich habe den Alaunen eine Kette gemacht.“ Stolz zeigt sie Marcus die lange Kette mit aufgefädelten Ebereschenbeeren, dazwischen einzelne kleine Glasperlen.

Die Reise scheint ewig zu dauern, doch endlich ruft Annilios Vater: „Wir sind da”. Mit steifgewordenen Beinen steigen alle aus dem Wagen. Vor ihnen liegt ein bewaldeter Hügel.

„Dort oben ist es”. Annilios Mutter deutet auf den Hügel. Sie und Marcus’ Mutter ziehen sich ihre Tücher über den Kopf, so dass alle Haare bedeckt sind, und gehen voran, dann folgen die Kinder und hinter ihnen die Väter. Ein schmaler Weg führt den Hügel hinauf, er ist im Nebel kaum erkennbar. Die Bäume und Sträucher links und rechts des Weges wirken eigenartig lebendig, als würden sie mit ihren kahlen Ästen nach ihnen greifen.

Marcus bekommt eine Gänsehaut. Unheimlich, dieser Ort! Ihm fallen Geschichten von Ahnengeistern und Toten ein, die an solchen Orten hausen oder von Gottheiten, die sich die Opfergaben abholen. Auf der Hügelkuppe angekommen, öffnet sich der Weg zu einer kleinen Lichtung. Marcus sieht Bretter, an denen etwas hängt und sich leicht bewegt. „Hängen da Menschen, oder sind das Geister?“ überlegt er. Annilio neben ihm scheint keine Angst zu haben. Auch die Erwachsenen wirken nicht beunruhigt. „Also gut, dann ist das wohl nichts Gefährliches“, versucht er sich selbst zu beruhigen, umklammert aber mit der freien Hand zur Sicherheit seinen Talisman, die Bulla, die er seit seiner Geburt an einem dicken Lederband um den Hals trägt. Als er direkt vor den Brettern steht, sieht er, was da flattert: An die Bretter sind Stoffe genagelt.

Annilio ist mutiger und schaut sich die Stoffe genau an. „Das sind Kleiderstücke“, stellt sie fest. „Und schau mal, da hängen auch ein paar schöne Kleiderfibeln mit dran.“

„Wirst du nicht sofort deine Finger wegnehmen“, ermahnt sie ihre Mutter, „alles hier ist den Muttergottheiten geweiht.“ Erschrocken zieht Annilio ihre Hand zurück.

Marcus schaut sich die flatternden Gewänder genauer an. Sie sind mit großen

Nägeln an die Bretter genagelt. Einige sind in traditionellen Karomustern in kräftigen Farben gewebt. Ein dunkelrotes Kleidungsstück leuchtet trotz des trüben Wetters. Überall stehen Opfergaben in kleinen Schalen.

Währenddessen haben Annilios und Marcus‘ Mutter die mitgebrachten Gaben ausgepackt und neben einem großen Stein auf die Erde gelegt. Gemeinsam entzünden sie ein kleines Feuer, verbrennen Baumharz und sprechen leise Gebete.

Annilio legt ihre selbstgemachte Kette auf den Stein. „Ihr lieben Alaunen“, betet sie, „bitte beschützt unsere Familien und macht, dass uns allen nichts Schlimmes passiert.“

Marcus ist es nicht geheuer, aber er gibt sich einen Ruck und legt seine Äpfel, Nüsse, Rosinen und fünf Küchlein daneben.

Die Väter danken für die gute Ernte und den erfolgreichen Handel und bitten darum, dass auch im nächsten Jahr die Ernte wieder gut sein möge.

„Bitte segnet unsere Familien“, sagen Annilios und Marcus‘ Mutter gemeinsam. Das Baumharz duftet wunderbar und raucht sanft vor sich hin.

Mitten in der Nacht kommen die Familien in BERUNUM an. Marcus und Annilio sind beide froh, als sie endlich in ihren Betten liegen; Annilio im keltischen Dorf und Marcus im römischen Gutshof. Die Kinder wären sehr erstaunt, wenn sie wüssten, dass sie in dieser Nacht den gleichen Traum haben: Sie träumen beide, wie sie im bleichen Licht des Vollmonds ohne Eltern auf dem Hügel bei dem heiligen Ort der Stammesmütter sind. Wie unheimlich!

Kapitel V – Grabenstätt

Fußböden aus bunten Steinchen

Viele Wochen sehen sich Marcus und Annilio nicht. Der Winter bringt Schnee und Eis. Die Kinder entfernen sich nur vom wärmenden Feuer, wenn es unbedingt sein muss. Annilio hilft ihrer Mutter bei Frauenarbeiten. „Jetzt sitze ich eh rum, da kann ich auch Wolle spinnen“, denkt sie sich, „wenn der Schnee weniger wird, will ich sofort zum Gutshof. Es ist so langweilig hier im Dorf.“ Nach endlosen Tagen gewinnt die Sonne wieder an Kraft und leckt mit ihren Strahlen den Schnee weg.

Eines sonnigen Morgens muss Annilio ihre Ungeduld nicht länger bezähmen. Mit Erlaubnis der Mutter macht sie sich auf den Weg zum Marcus‘ Gutshof. Sie kommt genau rechtzeitig, denn Marcus und sein Vater stehen im Hof neben dem Reisewagen. Gerade wird ein Pferd eingespannt.

„Annilio!“ Marcus strahlt über das ganze Gesicht, als er seine Freundin durch das

Tor kommen sieht. „Vater und ich fahren gleich los, komm doch mit!“

„Wohin fahrt ihr denn?“ Annilio will sich nicht anmerken lassen, wie froh sie ist, Marcus wiederzusehen und tut so, als wäre sie zufällig vorbeigekommen.

„An der alten Straße von IUVAVUM nach AELIA AUGUSTA baut ein reicher

Ratsherr einen großen Gutshof. Er hat Arbeiter aus IUVAVUM mitgebracht. Da will Vater hin und sehen, ob er Handwerker anwerben kann, weil Mutter sich mehr bunte

Farben in unserem Wohnhaus wünscht.“

Das klingt nach einem unterhaltsamen Ausflug! Caius schickt einen Knecht ins keltische Dorf, damit sich Annilios Mutter keine Sorgen macht, und schon geht die Reise los. An Stellen, wo der Weg aus der Ebene weg in die Nähe der aufragenden Berge führt, muss sich das Zugpferd durch Reste von Schnee mühen. Die Sonne scheint noch nicht über die hohen Gipfel, deshalb liegen diese Wegstücke in einem großen Schatten, den die Berge werfen.

Die Baustelle ist von weitem zu sehen. Auf einem Hügel stehen hölzerne Kräne, die sich wie Hühner beim Körnerpicken auf und ab bewegen. Als sie näherkommen, sehen die Kinder, dass die Kräne schwere Steine transportieren. Am Eingang eines großen Hauses, das schon recht fertig aussieht, steht ein Mann und winkt ihnen zu. „Salve“, ruft er und lacht, „Caius Terentius Praesentinus, hast du deine Berater mitgebracht?“

„Salve, Publius Seppius Severus“ antwortet Marcus‘ Vater und fügt stolz hinzu

„das ist mein Sohn Marcus. Und das ist Annilio, Marcus‘ Freundin aus der Bärensippe, die Tochter des Dorfoberhaupts. Den beiden war langweilig, wochenlang im Haus eingesperrt wegen Kälte und Schnee, wer mag das schon. Da habe ich sie hierher mitgenommen.“

Nachdem die Kinder den Ratsherrn höflich begrüßt haben, führt Publius Seppius seinen Gast über die Baustelle. Marcus und Annilio sehen sich beeindruckt um. In der klaren kühlen Luft leuchten die schneebedeckten Berggipfel am Horizont wie kostbare Edelsteine. In der anderen Richtung sehen die Kinder die alte Handelsstraße wie ein graues Band über einen Höhenzug kommen. Am Hang Richtung Straße stehen Weinstöcke in Terrassen. Am Fuß des Abhangs wird an weiteren Gebäuden gearbeitet.

Annilio zieht Marcus zu dem Haus. „Komm, ich will sehen, wie das große Haus von innen aussieht.“ Die Tür ist so schwer, dass die Kinder zu zweit schieben müssen, um sie aufzubekommen. In der Eingangshalle sind mehrere Männer am Arbeiten.

„Halt, was macht ihr hier“, ruft ein grauhaariger Handwerker, der mit einer Papyrusrolle in der Hand auf einem Podest steht und zwei Männern zusieht, die kniend an dem Mosaik arbeiten, „ihr habt hier gar nichts zu suchen.“ Er steigt von dem Podest und kommt zu den Kindern. Marcus erklärt ihm, wer sein Vater ist und dass sie zu Gast sind. Das besänftigt den Handwerker. Er streckt den Kindern seine große Hand hin. „Ich bin Cupitus, Mosaik-Meister aus IUVAVUM, vielleicht habt ihr ja schon von mir gehört. Meine Mosaiken sind berühmt in ganz NORICUM.“ Cupitus erklärt den Kindern, dass sie sehr gut aufpassen müssen, um keine losen Steinchen zu verrutschen, nicht über die gespannten Schnüre zu stolpern, die für den symmetrischen Aufbau des Bodenmosaiks gespannt sind, oder in die feuchte Farbe an den Wänden zu langen.

Die Beiden versprechen dem streng blickenden Mann, dass sie vorsichtig sind, nichts berühren, auf die Gerüste achtgeben und nicht im Weg sein werden. Staunend stehen sie am Rand des Raums. Alles ist so bunt hier! Geduldig legen zwei der Arbeiter einen kleinen Stein neben den anderen, visieren entlang der Schnur und greifen zum nächsten Steinchen. Ab und zu ruft ihnen Cupitus von seinem Podest etwas zu: “enger zusammen”, “der Kreismittelpunkt ist weiter links” „da muss rot hin“ und so weiter.

Annilio weiß gar nicht, wo sie zuerst hinsehen soll. „Schau Marcus, der Mann malt goldene Girlanden. Und schau mal hier, die Steinchen haben vier verschiedene Farben. So ein Muster habe ich noch nie gesehen.“ Sie kniet sich hin, um das Bodenmosaik genau zu betrachten.

Cupitus freut sich über die Begeisterung des Mädchens und bringt Annilio einen Hocker. „Dieser Teil des Mosaiks ist schon fertig, den dürft ihr betreten. Hier, Mädchen, steig‘ mal hinauf, du wirst stauen. Und du, Junge, stell‘ dich daneben, damit sie nicht runterfällt.“

Schon steigt Annilio auf den Hocker und starrt auf den Boden. „Das ist fantastisch!

Als würde ein Netz aus Kettengliedern auf dem Boden liegen – und so gleichmäßig.

Marcus, wie machen die das?“

Marcus hat schon öfter Mosaikböden gesehen. Er freut sich über Annilios

Begeisterung. Endlich gibt sie einmal zu, dass auch römische Handwerkskunst etwas Besonderes zustande bringt! „Dazu braucht man die Geometrie. Damit kann man berechnen, wo die Schnittstellen der Kreise sein müssen. Dann spannt man Schnüre in den entsprechenden Abständen, damit das Muster gleichmäßig wird. So, und jetzt komm‘ wieder runter von dem Hocker, da drüben ist ein Mosaik mit Vögeln, das will ich auch noch anschauen.“

Wider sein Erwarten steigt Annilio ohne Widerspruch sofort vom Hocker. Sie ist mit den Gedanken weit weg. Das Mosaik ist wunderschön. Endlos kann man mit den Augen den Linien nachfahren, von Kreis zu Kreis. Und die Farben passen so gut zusammen. Solch ein Mosaik würde sie einmal in ihrem eigenen Haus haben!

Kapitel VI – Breitbrunn

Ochsen pflügen leichter

Die letzten Schneereste sind verschwunden und die Wiesen sind gelb von

Schlüsselblumen. Die ersten neugeborenen Lämmchen stehen auf wackeligen Beinchen neben ihren Müttern im Schafspferch. Und die Hühner legen wieder mehr Eier - was besonders Annilio freut, denn Eier sind ihre Leibspeise.

Caius Terentius und Ateualus, die Väter von Marcus und Annilio, wollen zusammen das Landgut von Gaius Septimius besuchen. In der ganzen Region ist Gaius Septimius bekannt. Es heißt, er habe das schönste Vieh, die fruchtbarsten Äcker, und seine Obstbäume trügen mehr als alle anderen.

Marcus‘ Mutter glaubt die Geschichten nicht. „Die kochen auch nur mit Wasser“, pflegt sie zu sagen, sobald Marcus‘ Vater anfängt, vom Landgut des Gaius Septimius zu schwärmen.

„Man kann immer dazulernen“, antwortet Marcus‘ Vater. Außerdem freut er sich darauf, wieder einmal etwas mit seinem Handelsfreund Ateualus zu unternehmen. Sein Sohn soll ebenfalls mitkommen. „Marcus wird einmal den Gutshof übernehmen, da kann man gar nicht früh genug anfangen, ihn in alles einzuführen, was mit der Verwaltung eines solchen Gutes zusammenhängt“, erklärt er seiner Frau.

„Marcus ist doch noch ein halbes Kind, er soll nicht nur mit Erwachsenen zusammen sein“, meint seine Mutter.

„Dann nehmen wir halt Annilio auch mit“, antwortet Marcus‘ Vater. Er hat die Tochter seines Geschäftsfreundes inzwischen genauso liebgewonnen wie seine eigene Tochter Claudia, denn er merkt, wie gut sie seinem schüchternen Sohn tut.

Von der Bucht, in der Marcus und Annilio fischen waren, führt der Weg die Reiter in der Nähe des nördlichen Seeufers Richtung Osten. Zwischen Bäumen hindurch sehen sie immer wieder auf den See und die Berge. Annilio und Marcus sind beeindruckt von der Größe des Sees.

Annilios Vater Ateualus zeigt auf die große Insel. „Schaut, dort haben unsere Vorfahren in gefährlichen Zeiten gelebt. Es gibt immer noch eine große Befestigung, die durch Gräben und Wälle gesichert ist.“

„Ein guter Rückzugsort, wenn feindliche Krieger kommen“, nickt Marcus‘ Vater anerkennend, „möge Bedaius uns beistehen, dass wir nie einen solchen Ort brauchen.“ Plötzlich ist alle Fröhlichkeit verschwunden. Die Kinder spüren den Ernst, mit dem Caius Terentius gesprochen hat. Marcus‘ Vater merkt, dass er die Kinder erschreckt hat. „Gaius Septimius hat große Felder um seinen Gutshof“, versucht er sie abzulenken, „so große habt ihr noch nie gesehen“. Der Weg führt mittlerweile vom See weg eine Anhöhe hinauf. „Diese Felder gehören alle schon zu Gaius‘

Gutshof.“

Neben dem Weg ist ein Mann mit zwei riesigen Tieren am Pflügen. Annilio fällt vor lauter Staunen fast vom Pferd. „Sind das Ochsen?“, fragt sie ihren Vater. Ateualus ist sich selbst nicht sicher. Der größte Stier bei ihnen im Dorf ist kleiner als diese Riesentiere.

„Das sind Ochsen, die extra für die Feldarbeit gezüchtet wurden“, erklärt Marcus‘ Vater. Als er Annilios fragenden Gesichtsausdruck sieht, fügt er hinzu: „Züchten bedeutet, dass über Jahrzehnte immer die kräftigsten Bullen zu den kräftigsten Kühen geführt werden. So bekommt man große Kälber, von denen wieder die stärksten und gesündesten zur Zucht verwendet werden. Mit diesen schweren Tieren können große Felder und schwere Erde bearbeitet werden.“

Die Kinder wollen die riesigen Ochsen aus der Nähe sehen und laufen über die dampfende Erde zu dem Mann mit dem Pflug. Je näher sie kommen, umso mächtiger erscheinen ihnen die Tiere. Schnaufend ziehen die Ochsen eine große eiserne Pflugschar hinter sich durch die Erde. Annilio beobachtet begeistert, wie die eiserne Pflugschar durch den Boden fährt. Bei ihren Leuten pflügen zwei kräftige Männer miteinander, der eine zieht, der andere führt den Pflug. Das ist eine sehr anstrengende Arbeit. Diese Riesentiere hingegen scheinen mühelos die dunkle Erde zu durchpflügen.

„Ho“ ruft der Mann auf dem Pflug den Ochsen zu und bringt die Tiere zum Stehen. „Kommt nur her.“ Er winkt die Kinder zu sich.

Annilio berührt vorsichtig die Flanke eines Ochsen. Das Fell ist ganz warm und feucht, und sie spürt Bewegung unter der Haut. Das Tier wendet ihr seinen Kopf zu und schaut sie aus großen Augen an, die von langen Wimpern umrahmt sind.

Plötzlich fährt ihr der Ochse mit einer riesigen bläulichen Zunge über das Gesicht. „Iiiiih“, entfährt es dem Mädchen.

„Der mag dich“, sagt der Pflüger. „Willst du selbst mal ein paar Schritte pflügen?“ Er steigt von dem Trittbrett des Pfluges und macht Annilio Platz. Aber das Mädchen ist zu leicht, die Pflugschar sinkt nicht in die Erde. Marcus steigt zu ihr auf das Trittbrett. Auch zu zweit haben sie nicht genug Gewicht. „Seht ihr, deshalb mache ich diese Arbeit und nicht ihr“, sagt der Pflüger und steigt auf den Pflug. „Hey, hey“, treibt er die Ochsen an und zieht an den Zügeln. Langsam trotten die Tiere wieder los.

Die Kinder laufen über die frisch gepflügte Erde zu dem Landgut und finden ihre

Väter zusammen mit dem Gutsbesitzer im großen Vorratsraum. Dort hängen

Schinken und geflochtene Zwiebelzöpfe von der Decke. Am Boden stehen große Amphoren. „Hier habe ich kostbares Olivenöl importiert. In den drei Amphoren dort drüben lagert bester Rotwein aus TEURNIA“, erklärt Gaius Septimius gerade seinen Gästen.

„Und was ist da drin“, fragt Annilio und deutet auf mehrere Tonkrüge, die höher als die Männer sind.

Der Hofbesitzer ist sichtlich stolz auf seine Vorratshaltung. „Das sind Dolia gefüllt mit Getreidekörnern für die nächste Aussaat. Roggen lässt sich hier gut anbauen.“ Die Väter von Marcus und Annilio nicken anerkennend.

„Rrrrrr“, ein tiefes Brummen ertönt aus der Ecke, wo Marcus steht. Alles drehen sich zu ihm um. „Das war nur mein Bauch, ich glaube, ich habe Hunger“, sagt Marcus und wird rot.

„Was bin ich für ein schlechter Gastgeber!“, ruft Gaius Septimius. „Meine Frau hat Melomeli gemacht, Quitten eingekocht in Honig. Lauft in die Küche!“ Das lassen sich Marcus und Annilio nicht zweimal sagen.

In der Küche stellt ihnen die Hausherrin eine große Schüssel voll dickem goldenen Saft hin und gibt ihnen zwei Holzlöffel. „Lasst es euch schmecken, ihr zwei!“ Dazu gibt es frisch gebackenes Brot.

Was für eine Leckerei, süß und klebrig! Marcus und Annilio hören erst auf zu essen, als ihnen schon ein klitzekleines bisschen übel ist. Mit vollem Magen steigen sie auf ihre Reitpferde. „Schau“, ruft Marcus, „die Ochsen bekommen jetzt sicher auch etwas Gutes zu fressen“, und deutet auf die Tiere, die der Pflüger gerade in den Stall führt.

Annilio nimmt sich vor, den Vater zu überreden, für das Dorf zwei Ochsen bei Gaius Septimius zu kaufen. Manches, was die Römer haben, ist gar nicht so schlecht.

Kapitel VII - Bad Endorf Römische Nachrichten auf Papyrus

Seit seinem letzten Geburtstag reitet Marcus einmal in der Woche eine

Wegstunde Richtung Norden zum Schreibunterricht in das Landgut seines

Onkels. Quintus Publius Victorinus ist mit der Schwester von Marcus‘ Mutter Iulia Romana verheiratet und hat als hoher Beamter in IUVAVUM so viel Geld verdient, dass er sich für seine Kinder einen eigenen Hauslehrer leisten kann.

Ein paar Mal hat Marcus schon versucht, sich mit Ausreden vor dem

Lateinunterricht zu drücken, doch seine Mutter bleibt hart. „Gutes Latein öffnet alle Türen“, pflegt sie zu sagen, „sei froh, dass mein Schwager Quintus Publius erlaubt hat, dass du an dem Unterricht teilnimmst. Und jetzt will ich nichts mehr hören.“ Wenn seine Mutter in diesem Ton redet, dann weiß Marcus, dass er sie nicht umstimmen kann.

An einem schönen Maientag kommt Annilio des Weges. Eigentlich sollte sie zuhause beim Wäschewaschen helfen, doch nachdem sie versprochen hat, am nächsten Tag dafür fleißig und ohne zu maulen die Hütte sauberzumachen, hat ihr die Mutter erlaubt, Marcus zu besuchen. Annilio stürmt auf Marcus zu, der gerade ein

Pferd aus dem Stall führt. „Wohin willst du reiten? Kann ich mit?“

Marcus‘ Laune hellt sich mit einem Schlag auf. „Salve, Annilio, ja, komm‘ mit, ich reite zum Landgut meines Onkels. Heute ist wieder Lateinunterricht.“

„Ach so. Hmmm, ich weiß nicht, was soll ich denn da?“ Annilio ist enttäuscht. Sie kann doch nicht einfach in den Unterricht mitgehen.

Marcus überlegt. Dann kommt ihm eine Idee. „Ich weiß! Während ich mich mit langweiligen Texten von besonders klugen Dichtern abmühe, kannst du dir die Gartenterrassen anschauen. Die werden dir gefallen, dort wachsen verschiedene

Obstbäume und Kräuter und Gemüse und Nüsse und …“

„Überredet“, unterbricht ihn Annilio, „da will ich hin! Habt ihr ein Pferd, das sich auch von einem Fremden reiten lässt?“

Eine gute Stunde später kommen die Kinder am Torhaus des riesigen Landgutes an. Über ihnen erstrecken sich Terrassen bis hinauf zum Haupthaus, vor das zwischen zwei Türmen ein überdachter Säulengang gebaut ist. „Vale, Annilio, viel Spaß in den Gärten“, sagt Marcus und steigt die Treppen zum Haus hoch.

Annilio betritt die erste Terrasse: blühende Apfelbäume und dazwischen verschiedene Kräuter. Von der Erhöhung, auf der das Landgut gebaut ist, ist der Ausblick beeindruckend. Vor ihr liegt ein kleiner See, eingerahmt von Wäldern.

Dahinter leuchten die letzten Schneefelder auf den Berggipfeln. Auf der zweiten Terrasse entdeckt sie Rosensträucher mit dicken Knospen. „Schade, dass die noch nicht blühen“, denkt sich Annilio. Auf der dritten Terrasse stehen Obststräucher. Die ersten Johannisbeeren werden schon rot. Heimlich steckt sich das Mädchen ein paar in den Mund und verzieht das Gesicht. „Die sind noch gar nicht reif.“ Dann legt sie sich in die Wiese und schaut eine ganze Weile den Wolken zu. Bienen summen um sie herum. Über ihr treiben Schwalben ihr Spiel in der Luft, wie Pfeile schießen sie hin und her. Die Wolken verändern dauern ihre Gestalt. Gerade erscheint es Annilio, als würde aus einer Wolke ein Pferd. Fliegt ein Wolkenpferd oder galoppiert es durch die Luft?

„Anniliooo!“ Marcus kommt die Treppe herunter.

Das Mädchen schreckt aus seinen Gedanken auf. „Hier bin ich!“

„Die Lateinstunde ist fertig. Komm, lass uns gehen.“

Annilio kaut auf einem Grashalm herum. „Hier ist es so schön. Warum willst du schon gehen. Schau, wie lustig die Schwalben herumsausen.“

„Ich muss dir unbedingt was zeigen“, flüstert ihr Marcus zu, „aber nicht hier.“ Das lässt sich Annilio nicht zweimal sagen, denn sie liebt Geheimnisse.

Als sie so weit von den Gebäuden weg sind, dass sie keiner der Bewohner mehr hören kann, bleibt Marcus stehen. Er dreht sich mit dem Rücken zum Landgut und zieht eine Papyrusrolle aus seinem Gewand. „Schau, das ist ein Brief aus Rom, du weißt schon, die große Stadt weit hinter den Bergen Richtung Meer und dann noch viel weiter. Die Stadt, in der die römischen Kaiser ihre Paläste haben. Den Brief hat der Lateinlehrer von seinem Bruder geschickt bekommen.“

„Und warum hast du ihn jetzt?“

„Das will ich dir gerade erzählen. Mein Onkel hat mir den Brief mitgegeben, damit ihn mein Vater selbst lesen kann. Da stehen so eigenartige Sachen drin, die muss mein Vater gelesen haben, meint der Onkel. Pass auf: Es soll in Rom Leute geben, die glauben, dass es nur einen einzigen Gott gibt. Die Leute nennen sich Christen und die werden immer mehr! Sie sagen, dass ein Kaiser kein Gott ist. Dafür werden sie bestraft, aber sie bleiben bei ihrer Meinung.“ Marcus hockt sich auf den Boden und rollt den Brief auf. „Schau“, er zieht mit seinem linken Zeigefinger Striche in den sandigen Boden, „das ist ein Zeichen für diesen Gott, oder für seinen Sohn, so genau hab‘ ich das nicht verstanden.“

„Wenn dieser Gott einen Sohn hat, dann sind es mindestens zwei Götter.“ Annilio schaut zweifelnd. Könnte es sein, dass Marcus ihr einen Bären aufbinden will? „Das Zeichen schaut aus wie zwei von euren Buchstaben übereinandergeschrieben, was ist daran so besonders? Und überhaupt, wie soll denn ein einziger Gott für alles zuständig sein können?“ Sie beginnt, aufzuzählen: „Für die Bienen, die Früchte, das

Wasser, die Berge, die Sonne, den Mond, die Ernte, für Geburten …“

Marcus unterbricht sie. „Keine Ahnung. In dem Brief steht, dass der Sohn, also der mit diesem Zeichen, als Mensch gelebt hat. Der konnte Kranke heilen und Tote aufwecken. Er hat gesagt, dass sein Vater im Himmel die Menschen liebt und dass die Menschen sich auch lieben sollen, dass sie jeden lieben sollen wie sich selbst. In dem Brief steht auch, dass manche von den Leuten in Rom, die an diesen Gott glauben, ihre Sklaven freilassen. Diese Leute reden davon, dass alle Menschen ohne Unterschied friedlich zusammenleben können.“

„Wir leben hier auch friedlich zusammen.“ Annilio versteht Marcus‘ Aufregung nicht. „Komm, Marcus, der Brief ist langweilig. Spürst du den Wind? Ich glaub‘, es regnet bald. Die Schwalben fliegen schon ganz tief. Lass uns schnell die Pferde holen und nachhause reiten.“

„Stimmt, das schaut nach Regen aus.“ Marcus zeigt auf eine dunkle Wolke über ihnen. „Hoffentlich kommen wir trocken nach Hause.“

Auf dem Heimweg sind beide Kinder in Gedanken bei dem Brief. Annilio fragt sich, warum die Leute in Rom nichts von den Gottheiten in den Bäumen und in den Flüssen wissen. Und wer ist überhaupt die Mutter des Sohns von diesem Gott im Himmel?

Marcus überlegt sich, wie es wäre, kein Schwert mehr zu brauchen und nie mehr zu kämpfen. Aber er kann sich nicht vorstellen, dass gar niemand mehr kämpft. Und dann wäre er der Dumme, wenn andere ein Schwert hätten und er nicht. Das ist wirklich schwierig! Der Junge ist so in Gedanken versunken, dass er erst merkt, wie weit Annilio ihm voraus ist, als sie ihn ruft. „Ho, lauf‘“, treibt er daraufhin sein Pferd an und beugt sich über den Hals des Tieres. Das letzte Wegstück reiten Annilio und Marcus nebeneinander.

„Weißt du was, Marcus“, sagt Annilio, „vielleicht können diesen Brief nur

Erwachsene verstehen.“

„Ja, vielleicht“, nickt Marcus.

Kapitel VIII – Grassau

Heilmittel aus der Natur

Es hat viel geregnet in den letzten Wochen. Die Wege sind aufgeweicht und kaum noch zu benutzen. Die Sonne blinzelt nur für kurze Momente durch die dichten Wolken, bevor es wieder zu regnen anfängt. Was für ein Sommer! Das Schwimmen im See macht keinen Spaß, dafür ist das Wasser viel zu kalt. Die Menschen machen sich Sorgen um die Ernte. „Wir brauchen Sonne, damit wir unser Getreide ernten können“, sagt Annilios Vater jeden Tag und schaut nachdenklich in den grauen Himmel. Nur die Enten und Gänse genießen das Wetter und watscheln laut schnatternd zwischen den Hütten von einer Pfütze zur nächsten.

Eines Morgens wacht Annilio auf und merkt, dass etwas anders ist. Der Regen hat aufgehört, das leise Rauschen ist verschwunden. Endlich, denkt sie sich und springt von ihrem Schlaflager auf. Durch die warmen Sonnenstrahlen steigt der Nebel aus der feuchten Erde.

An der Tür der großen Hütte klopft jemand. Draußen steht Marcus und schaut verlegen auf den Boden. Er ist das erste Mal ohne seinen Vater im Dorf der Bärensippe.

„Marcus, der Sohn meines lieben Freundes Caius Terentius Praesentinus!“ Annilios Vater winkt den Jungen erfreut herein und klopft ihm auf die Schulter. „Was führt dich zu uns? Wie geht es deiner Familie?“

Marcus schaut sich unsicher um. Erleichtert nickt er Annilio zu, die er zuerst nicht gesehen hat, weil sie neben der Feuerstelle am Boden sitzt und einem Hund, der wie ein Wolf aussieht, Kletten aus dem Fell kämmt. „Ich … wir …“, Marcus wird rot, „bei uns sind alle krank“, platzt er endlich heraus. „Mutter und Claudia frieren und schwitzen abwechselnd und sind sehr schwach, Vater kann vor lauter Husten nicht sprechen und sogar unsere Dienerin Tulia und der Koch liegen krank im Bett. Nur mich hat es nicht erwischt. Ich koche seit Wochen Tee für alle und jetzt sind unsere Teekräuter aufgebraucht. Im Haus bei den Knechten und Mägden ist es das gleiche, die können gerade noch das Vieh versorgen.“

„Und da kommst du erst jetzt, Marcus? Wie lange haben deine Schwester und deine Mutter denn schon Fieber?“ wendet sich Annilios Mutter besorgt an Marcus.

„Ich weiß nicht, vielleicht acht Tage. Wegen ihren schlimmen Halsschmerzen mögen sie auch kaum was essen“, antwortet Marcus bedrückt.

„Das klingt gar nicht gut! Die beiden müssen ja schon völlig entkräftet sein. Dagegen werden wir sofort etwas unternehmen.“ Annilios Mutter schlüpft bereits in ihre Holzschuhe. „Es gibt zum Glück Mittel, die deiner Familie helfen können. Annilio, du weißt doch, wo die richtigen Pflanzen wachsen? Ihr zwei geht die Heilpflanzen sammeln und ich mache mich auf den Weg zu euerem Landgut. Bringt mir

Weidenrinde, Rinde und Blätter von der Erle, Mädesüß, Spitzwegerich … und

Betonica zur Stärkung. Hoffentlich findet ihr welche.“

„Ja, Mutter, Marcus und ich gehen gleich los. Der Nebel lichtet sich schon.“ Annilio schaut aus der kleinen Fensteröffnung. Dann nimmt sie einen Korb mit Trageriemen von der Wand und stellt sich auf den Zehenspitzen, um an die Sichel zu kommen, die darüber an einem Haken hängt.

„Wart‘, ich hol‘ sie dir herunter“, sagt Marcus. Er ist sehr erleichtert, dass er Unterstützung für seine kranke Familie bekommt. Annilio hat ihm schon des Öfteren erzählt, dass ihre Mutter Ategenta für die Leute im Dorf die Medizin herstellt und bei Geburten, Verletzungen und Krankheiten zur Hilfe geholt wird. Jetzt versteht er selbst nicht mehr, warum er nicht schon früher auf die Idee kam, Annilios Familie um Hilfe zu bitten.

Annilio geht voran. „Komm, es ist nicht weit. Dort drüben an dem Bach steht Mädesüß, siehst du die feinen weißen Blüten, das ist es.“ Der Boden ist durch den langen Regen aufgeweicht und gibt bei jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich.

Marcus bemüht sich, in den Spuren von Annilio zu gehen. Die Kinder gehen am Rand des großen Moores entlang, das sich von hier bis zum See erstreckt. “Pass auf Schlangen auf”, ruft Annilio ihm über die Schulter zu.

Schlangen! Marcus zuckt nervös zusammen, Schlangen mag er ganz und gar nicht. Ihm fallen die Geschichten ein, die über das Moor erzählt werden. Von Irrlichtern geleitete Menschen sollen dort versunken und auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein. In der Mitte des Moores soll es einen See geben, der Gottheiten aus uralten Zeiten geweiht ist. Aber Annilio scheint keine Angst zu haben. Marcus eilt ihr nach.

„Hier“, Annilio kniet schon am Boden und streckt ihm den Korb entgegen. Sie schneidet mit ihrer Sichel hohe Pflanzen mit gefiederten dunklen Blättern ab. Ein paar wenige Pflanzen sind gekrönt von leuchtend weißen Blüten. „Die sind schon am Verblühen, da riech‘ mal, die duften herrlich.“ Annilio hält ihm eine Blütendolde unter die Nase. Tatsächlich, ein Duft nach süßem Honig! An dem Bachlauf wachsen vereinzelte Bäume. „Die stehen hier wie gerufen“, sagt Annilio und deutet auf einen der Bäume. „Das ist eine Erle, die erkennst du daran, dass sie Kätzchen und kleine Zapfen hat. Aus ihrem Holz machen unsere Männer ihre Schilde. Aber jetzt brauchen wir Blätter und Rinde.“ Während Marcus Erlenblätter von den Ästen zupft, löst Annilio Rinde vom Baumstamm. Neben der Erle steht ein Baum mit überhängenden Ästen und silbrigen schmalen Blättern. „Das ist eine Weide“, sagt das Mädchen und schneidet einige Zweige ab. „So, jetzt gehen wir da weiter.“ Annilio zeigt Richtung Berg. Die Kinder folgen einem schmalen Pfad den Hang hinauf. „Hier ist schon einmal der Spitzwegerich.“ Annilio bückt sich und pflückt ein paar schmale lange Blätter vom Boden. „Oh, und schau mal da vorne!“ Sie zeigt auf einen kleinen Baum mit Dolden von leuchtend hellroten Beeren. „Eine Eberesche. Die Beeren sind gut zum Gesundwerden.“ Die Kinder pflücken einige Dolden in den Korb.

Marcus will sich ein paar Beeren in den Mund schieben. „Mach das lieber nicht, davon kannst du Bauchweh bekommen. Wir kochen die Beeren immer mit Honig, das ist besser“, rät ihm Annilio. „Jetzt fehlt uns nur noch die Betonica. Komm, wir steigen noch ein bisschen höher, da müsste sie wachsen.“

„Kann man die essen?“ Marcus deutet auf ein paar Pilze mit samtig brauner Kappe am Wegrand.

„Das sind Steinpilze, die sind richtig fein“, freut sich Annilio. Die Pilze wandern zu den Beeren, Blättern und Rinden in ihren Korb.

„Hab‘ ich’s mir doch gedacht, hier sind sie schon.“ Das Mädchen zeigt auf eine große Gruppe von Pflanzen mit rundlichen Blättern und violetten Blüten. Sie stellt den Korb auf den Boden, kniet sich hin und schneidet mit ihrer Sichel ein Büschel Betonica-Pflanzen ab.

„Uiii, der schaut aber lecker aus.“ Marcus hält einen großen Pilz mit roter Kappe und weißen Flecken in der Hand.

Annilio schüttelt den Kopf. „Der ist giftig, weißt du das nicht?“ Enttäuscht legt Marcus den Pilz weg.

Mit vollem Korb machen sich die Kinder auf den Weg zu Marcus‘ Gutshof. Die Sonne hat mittlerweile den Nebel aufgelöst und scheint warm in ihre Gesichter.

In der Küche des Gutshofs gießt Annilios Mutter Ategenta sofort Tees auf und zerreibt einige Pflanzen zu einer Paste. Marcus‘ Vater bekommt einen Brustwickel mit der Paste und einen Tee aus Spitzwegerich und Erlenblättern. Marcus‘ Mutter und Schwester müssen als erstes einen bitteren Absud aus Baumrinden trinken. „Der wird euer Fieber senken“, erklärt Annilios Mutter. Dann reicht sie allen dreien mit den Worten „das gibt euch wieder Kraft“ große Tonbecher mit Tee aus Betonica und verspricht, am nächsten Tag wieder vorbeizuschauen.

An diesem Tag ist Marcus besonders froh um seine Freundin Annilio.

Kapitel IX – Chieming

Römer lieben Inschriften

Zur allgemeinen Erleichterung folgen den nassen Wochen herrlich warme

Spätsommertage. Marcus‘ Vater kann eine gute Ernte einfahren. Auch die Bärensippe hat ihre Heuschober und Vorratskammern gefüllt. Die Kinder arbeiten von morgens bis abends auf den Feldern und in der Küche mit. Marcus hilft beim Schlachten und stopft Wurstbrat in die Därme. Annilio flicht unendlich viele Zwiebeln zu Zöpfen und hängt sie selbst zum Trocknen auf. Dann ist es endlich geschafft: Alle Vorräte für den Winter sind eingelagert. Die Väter haben ihre Handelswaren verschickt und sind gut dafür bezahlt worden.

Eines Morgens sagt Marcus‘ Vater: „In BEDAIUM ist großer Herbstmarkt. Marcus, wolltest du dort nicht schon lange hin?“

Marcus schaut seinen Vater überrascht an. Wie gerne würde er zum Markt nach BEDAIUM reiten! In den letzten Jahren hieß es immer, er sei noch zu klein, der Markt sei nichts für Kinder und er würde dort nur verloren gehen.

Der Vater greift in den Lederbeutel, der an seinem Gürtel hängt. „Du hast dieses Jahr fast wie ein Mann bei der Ernte mitgearbeitet. Jetzt sollst du auch einen Lohn für deine Arbeit bekommen. Hier hast du einen Denar und acht As-Münzen. Das ist viel Geld. Ich möchte, dass du das Handeln übst. Nimm Annilio mit. Sie soll sich etwas Schönes kaufen, ich gebe dir für sie auch einen Denar. Dank den Verbindungen ihres Vaters liefen meine Geschäfte dieses Jahr gut. Mit Ateualus ist eure Reise bereits abgesprochen, Annilio muss jeden Moment da sein.“ Marcus weiß gar nicht, wie ihm geschieht: Mit Annilio auf den Herbstmarkt reiten, etwas Besseres kann er sich nicht vorstellen.

„Salve Marcus!“ Annilio kommt strahlend durch das Tor in den Hof geritten. „Da ist unseren Vätern eine schöne Überraschung gelungen, oder?“ Ein Knecht kommt mit zwei Pferden aus dem Stall. Ein Pferd führt er zu Marcus und auf das andere schwingt er sich selbst. An seiner Seite baumelt ein Schwert.

„Acutus wird euch zur Sicherheit begleiten.“ Marcus‘ Vater wendet sich mit ernstem Blick an die Kinder. „Ihr bleibt zusammen, verstanden! Sorgt dafür, dass Acutus immer in eurer Nähe ist.“ „Und du, Acutus“, er fixiert den Knecht, „du haftest mit deinem Leben für die Sicherheit von Marcus und Annilio.“

Marcus ist verwundert über die Ernsthaftigkeit seines Vaters. Na ja, vielleicht macht er sich einfach zu viele Sorgen. Marcus besteigt sein Pferd und los geht es. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint und ein leichter warmer Wind weht den beiden die Haare aus der Stirn. Annilio tut einen Juchzer. Ein ganzer Tag ohne Arbeit, zusammen mit Marcus - und dann noch der Herbstmarkt in BEDAIUM! Etwas Schöneres kann sie sich nicht vorstellen.

„Gleich reiten wir an dem Landgut des Publius Seppius Severus vorbei, erinnerst du dich noch?“ fragt Marcus Annilio. „Im Februar haben wir ihn und seine Frau noch auf der Baustelle besucht und jetzt sind sie tot. Sie sind im August an einer Lungenentzündung gestorben, zu der gleichen Zeit, als bei mir zuhause alle krank waren und du und deine Mutter uns geholfen habt.“

„Oh, das tut mir leid.“ Annilio schaut nachdenklich, doch plötzlich fängt sie an zu kichern. „Und weißt du noch, wie der schlecht gelaunte Handwerker uns vertreiben wollte.“ An so einem herrlichen Tag kann man einfach nicht lange traurig sein.

„Und dann hat er dir sogar einen Hocker gebracht, damit du seinen Mosaikboden besser bewundern kannst.“

„Der Boden war wunderschön!“ nickt Annilio.

„Da oben am Hang ist schon das Landgut“, ruft Marcus wenig später. „Jetzt kommen wir bald auf die große Straße, die von IUVAVUM nach AELIA AUGUSTA führt.“ Mittlerweile sind die Kinder nicht mehr allein unterwegs, Menschen aus der ganzen Region strömen auf den Markt nach BEDAIUM. Auf der Straße sehen sie

Ochsenkarren mit unförmigen Paketen, großen Tongefäßen oder mit Schilf beladen. Rinder und Ziegen werden die Straße entlang getrieben. Von einem Wagen mit Käfigen ertönt lautes Gequake.

Plötzlich ruft Marcus „halt“ und springt vom Pferd.

„Was ist los?“ Annilio will nicht anhalten, sie zieht es auf den Markt.

„Schau doch, hier steht das Grabmal für Publius Seppius Severus und seine Frau Florentina, gerade haben wir von ihnen gesprochen.“ Marcus betrachtet bewundernd den großen Stein. „Eine schöne Steinmetzarbeit. Da hat sich der Sohn nicht lumpen lassen und seinen Eltern ein würdevolles Gedenken bereitet.“

„Warum steht der Stein hier an der Straße?“ Manche der römischen Sitten verwundern Annilio immer noch.

„Unsere Grabmäler stehen immer an den großen Straßen, so ist es bei uns üblich. Hier werden sie am besten gesehen. Pass‘ auf, wir machen es so: Ich lese dir jetzt vor, was auf dem Stein steht, und danach beten wir für die Verstorbenen, einverstanden?“

Natürlich ist Annilio einverstanden, aber insgeheim würde sie lieber auf den Markt weiter reiten. Sie versteht nicht, warum die römischen Grabsteine beschriftet werden.

Bei ihren Leuten ist Schreiben etwas für die Verwaltung, aber doch nicht für das Totengedenken. Was für ein Aufwand, Buchstabe für Buchstabe in den Stein zu meißeln!

„Annilio, hast du verstanden?“

Annilio schüttelt den Kopf. „Entschuldige Marcus, jetzt höre ich dir zu.“ Sie setzt sich an den Straßenrand.

„Also, nochmal. Wir fangen mit den zwei Buchstaben hier oben an: D und M. Das bedeutet ‚geweiht den Totengöttern‘. Darunter geht es so weiter: Dem Publius

Seppius Severus, Stadtrat und Bürgermeister von Claudium Iuvavum und Claudia

Florentina, der Ehefrau …“

„Der war Bürgermeister von IUVAVUM?“ Annilio ist schwer beeindruckt.

„Deswegen ist das Grabmal so groß. Und was sitzt da oben auf der Spitze?“

„Das ist ein Pinienzapfen. Pinien wachsen im Süden, wo unsere Vorfahren herkommen. Der Zapfen bedeutet, dass das Leben auch nach dem Tod weitergeht.“

„Das verstehe ich, in dem Zapfen sind Samen, und aus den Samen wachsen wieder neue Bäume.“ Annilio ist erleichtert, dass der Stein nicht nur beschriftet, sondern auch geschmückt ist. Die Handwerker in ihrer Sippe verzieren die Gegenstände gerne mit Symbolen. „Jetzt aber genug mit der Inschrift. Lass‘ uns für die Toten beten und dann reiten wir weiter auf den Markt.“

Die Kinder stehen andächtig vor dem Grabmal und jeder betet auf seine Weise.

Kapitel X – Seeon-Seebruck

Ein schöner Markttag

Die Reise von BERUNUM nach BEDAIUM ist lang. Es geht schon auf Mittag zu, als Marcus und Annilio die Brücke über die Alz erreichen. Auf der Straße stauen sich die Fuhrwerke, weil ein römischer Beamter die geladenen Güter prüft und Brückenzoll verlangt, ehe die Fuhrleute über die Brücke auf den Markt fahren dürfen. Annilio, Marcus und Acutus, der Knecht, der sie im

Auftrag von Marcus‘ Vater begleitet, dürfen passieren, ohne zu zahlen. Bei Marktbesuchern drücken die Beamten, die die Brücke bewachen, meistens ein Auge zu.

Die Kinder wissen gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollen - so viele Leute, es wird immer enger. Schließlich stellt Acutus ihre Pferde bei einem Gasthof unter. Links von ihnen ragt der Tempel über dem See auf. Im warmen Licht der Herbstsonne wirkt er wie von Gold übergossen.

Annilio zupft Marcus am Ärmel. „Schau Marcus, der Bedaius-Tempel ist aus dem gleichen weißen Stein wie das Grabmal, das wir vorhin gesehen haben. Und da, ein echter Bär!“ Ein Mann führt einen großen Bären mit Maulkorb an einer Kette durch die Menge. „Wo ist denn jetzt der Markt?“ Aufgeregt nimmt sie Marcus‘ Hand. „Wir dürfen uns nicht verlieren.“

Marcus ist verlegen, als er Annilios Hand in seiner spürt, lässt sich aber nichts anmerken. „Da vorne müssen wir hin.“ Er zeigt in eine Richtung. „Die Handwerker haben ihre Läden entlang der Straße. Dazwischen bauen die Händler, die zum Markt in den Ort kommen, ihre Stände auf.“

Die Kinder lassen sich im Strom der Menschen mittreiben. Es gibt so viel zu sehen! Haufen von ungefärbtem Leinen und bunt gewebten Wollstoffen, Berge von Amphoren mit Öl und Wein, Schaffelle, glänzende Pelze, tönerne Öllampen. An einem Stand sehen sie keltische Glasarmreifen, an einem anderen Ledergürtel mit Metallbeschlägen. Lautstark preisen die Händler ihre Waren an. Ein Handwerker zeigt einer Gruppe von Frauen gerade verschiedene Fibeln. Hier werden Fische gegrillt, dort rührt eine dicke Frau in einem riesigen Kessel, der über einem Feuer aufgehängt ist. Ein Mann verkauft fettige Krapfen, die er auf einem Tablett durch die Menge trägt. Kleine Götterstatuen aus Ton, Werkzeuge aus Eisen, aus Knochen geschnitzte Dosen, polierte Metallspiegel – Annilio und Marcus kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Auf einmal fällt Marcus das Geld ein, das er unter seiner Tunika verborgen in einem Lederbeutel trägt. Sein Vater hat ihm aufgetragen, für Annilio etwas Schönes zu kaufen. Marcus drückt die Hand von Annilio. „Du darfst dir etwas aussuchen. Mein

Vater hat mir Geld für dich mitgegeben.“

Jetzt ist Annilio noch aufgeregter. Sie kann sich etwas aussuchen! Was soll sie nehmen? Es darf auf keinen Fall zu teuer sein, das wäre unhöflich. Vielleicht eine Fibel? Aber eigentlich hat sie genug Fibeln. Oder Stoff? Aber ihre Mutter webt selbst die schönsten Stoffe. Da entdeckt Annilio einen Stand mit Tonwaren. Dort gibt es kleine und große Schalen, mit und ohne Dekor, und Fläschchen mit Kork-

Verschlüssen. Das ist es! Sie wird für ihre Mutter und für sich selbst ein paar Tongefäße aussuchen.

„Salve, ihr zwei, wir führen beste Töpferware aus PONS AENI“, begrüßt sie die Marktfrau. „Sucht ihr etwas Bestimmtes? Wir haben verschiedene Qualitäten von sechs Töpfereien. Bei uns wird jeder fündig.“

„Oh, schau mal, die kleine Schüssel gefällt mir. Und da, der Krug. Oder die größere mit dem Muster. So ein Fläschchen ist auch praktisch. Oder …“ Annilio kann sich nicht entscheiden.

„Such‘ dir ruhig die schönsten Stücke aus“, ermuntert sie Marcus. „So schnell wirst du keine Töpferware aus PONS AENI mehr kaufen können.“ Marcus holt seinen

Lederbeutel heraus. „Hier, damit du deinen Einkauf auch bezahlen kannst.“

„Gut, dann will ich diese kleine Schale, und die und …, au ja, die mit dem breiten

Rand …“ Annilio drückt Marcus eine Schale nach der anderen in die Hand. „Oh, der Becher hat ein schönes Muster – und wie viele Schalen habe ich jetzt? Drei, dann brauche ich noch die zwei und … einen Krug für Tee. So, das ist alles.“

Marcus beugt sich zu Annilio und flüstert ihr ins Ohr: „Einen Denar darfst du ausgeben.“

„Was kosten die sieben Stücke?“ fragt Annilio die Marktfrau.

„Die Schalen jeweils ein As, der Becher und der Krug zwei As, das macht zusammen neun“, antwortet die Marktfrau.

„Hmmm“, überlegt Annilio. Die Marktfrau hat sicher etwas aufgeschlagen. „Ich zahle dir sieben As-Stücke und du gibst mir noch zwei von diesen kleinen Schälchen für Gewürze dazu.“

„Na gut“, der Marktfrau gefällt das freche Mädchen. „Abgemacht. Junger Mann, brauchst du etwas zum Tragen?“ Sie holt eine Holzkiste unter dem Stand hervor.

Marcus, der inzwischen einen ganzen Stapel von Tongefäßen balancieren muss, nickt dankbar. Vorsichtig packen sie Annilios Einkäufe zwischen Schichten von Schilfblättern.

Als sie wieder bei ihren Pferden ankommen, bindet Acutus, der Knecht, die Kiste mit Tongeschirr vor sich auf den Sattel und dann geht es heimwärts.

Marcus ist stolz auf seinen neuerworbenen Gürtel. Er hat es wie Annilio gemacht und einen Denar geboten, obwohl der Händler einen und einen halben Denar verlangt hat. Schließlich hat der Händler ihm den mit Bronzenägeln beschlagenen Ledergürtel für einen Denar verkauft.

Die Kinder sind beide müde und zufrieden. Was für ein schöner Markttag!

Kapitel XI – Aschau

Abschied von der Heimat

Wieder geht ein kalter Winter zu Ende. Marcus und Annilio können sich nur selten treffen, weil die meiste Zeit der Schnee so hoch liegt, dass weder Mensch noch Tier weit kommen. Doch langsam gewinnt die Sonne an Kraft, der Schnee taut und die ersten Schlüsselblumen blühen.

Eines frühen Morgens, es ist noch dunkel, wird Marcus‘ Familie von heftigen Schlägen geweckt. Jemand trommelt mit aller Kraft gegen das Tor ihres Landgutes. Als Marcus‘ Vater das Tor öffnet, steht dort gehetzt und aufgeregt Annilios Vater Ateualus.

“Lieber Freund, wir dürfen keine Zeit verlieren, alamannische Horden kommen, die Dörfer im Westen brennen schon! Sie haben bereits den Inn überquert. Eine befreundete Sippe am Inn hat uns einen Boten geschickt. Wir sind hier nicht sicher, wir müssen weg aus BERUNUM! Packt alles zusammen, wir führen euch zu einem sicheren Versteck, beeilt euch! Wir warten auf euch am Fuß des Hügels am Eingang zum Priental.”

„Und deine Sippe?“ fragt Caius Terentius.

„Die Bärensippe rudert gerade auf die große Insel im Chiemsee zu der uralten

Befestigung unserer Vorfahren. Dort sind sie in Sicherheit.“

Caius Terentius nickt dankbar. „Danke, dass ihr uns helft.“ Er läuft ins Haus zurück. “Steht auf, schnell! Die Alamannen kommen! Sie plündern und brennen alles nieder, packt das Wichtigste zusammen. Wir müssen weg. In einer Viertelstunde seid ihr alle im Hof, aufbruchbereit! Ateualus und seine Familie führen uns, sie wissen ein sicheres Versteck! Los, beeilt euch”, ruft er noch einmal.

Marcus ist aus dem Schlaf hochgeschrocken, sein Herz schlägt viel zu schnell. Fliehen, sie müssen fliehen! Überall im Haus werden Befehle gerufen und Dinge zusammengepackt. Marcus rollt seine Schlafmatte zusammen und stopft warme Kleidungsstücke in einen Sack. Seine Mutter packt mit einer Magd Essen, Tonkrüge und Geschirr ein. Draußen werden die Tiere zusammengetrieben. Vorräte, Kleidung, allerlei Gerätschaften, Käfige mit Hühnern und Enten und drei Schweine werden eilig auf zwei Wägen geladen. Auch die Maultiere werden bepackt. Marcus‘ Vater verstaut das ganze Geld der Familie in einer Schatulle und bindet sie an dem Sattel seines Reitpferdes fest. Vieles muss zurückgelassen werden. Es ist ein furchtbares Durcheinander. Ein Knecht stolpert und zerbricht einen Krug mit Öl. “Oh Mist!”, schimpft er. Marcus wirft seinen Stoffsack und die zusammengerollte Schlafmatte zu seiner Schwester und seiner Mutter auf den Wagen. Dann machen sich die Wagen und Maultiere auf den Weg.

„Wir treffen Ateualus und seine Familie am Taleingang“ ruft Caius Terentius und reitet dem Zug voraus. Von der Hügelkuppe aus sind am Horizont Rauchsäulen zu erkennen.

“Die sind nicht mehr weit weg”, flüstert Marcus ängstlich seiner Mutter zu. Ihr Tross fährt Richtung Süden in das Tal der Prien hinein, weg vom See. Am Eingang zu dem Tal, aus dem die Prien kommt, steht wie ein Wächter ein mächtiger Felsen, unter dem Annilio, ihr großer Bruder Ario und Annilios Vater Ateualus auf Marcus‘ Familie warten. Ario überragt seinen Vater um einen ganzen Kopf und hat Arme wie Baumstämme. Er kommt Marcus so riesig vor wie der keltische Schmied, von dem sie letztes Jahr ein Schwert für seinen Onkel gekauft hatten. An dem Wächterfelsen vorbei bis an den Fuß eines steilen Berghangs können die Pferde die Wagen ziehen. “Ab hier müssen wir zu Fuß gehen. Die Maultiere führen wir mit”, weist Annilios Bruder Ario die Flüchtenden an. Er ist ein erfahrener Jäger und manchmal mehrere Tage in den Bergen unterwegs.

Die Wagen werden entladen und jeder muss so viel tragen, wie er kann. Marcus hat einen schweren Rucksack auf dem Rücken und bindet seinen Stoffsack, seine Schlafmatte, ein paar Lederbeutel und Decken auf ein Gestell, das er sich über die Schulter legt.

Annilio geht neben ihm, sie kennt den Weg. Durch dichten Wald kämpft sich die Gruppe einen schmalen Pfad den Berg hinauf. Die Angst sitzt allen im Nacken. Marcus steht der Schweiß auf der Stirn. Annilio ermuntert ihn: „Komm, es ist nicht mehr weit.”

Endlich ist der Waldrand erreicht. Marcus ist tief berührt von der Schönheit der

Landschaft. Unter ihm liegt wie ein blauer Spiegel der große See, neben ihm ragen die schneebedeckten Berggipfel auf. So hoch oben am Berg war er noch nie zuvor.

Der Junge lässt seinen Blick über die vertraute Gegend schweifen und erschrickt.

„Schau da“, er deutet auf einen Punkt. „Das ist ...“ Marcus versagt die Stimme. Energisch wischt er sich über die Augen.

Annilio sieht, was er meint. Das Landgut von Marcus‘ Familie brennt. Eine schwarze Rauchsäule steigt dort in den Himmel. Sie versucht zu erkennen, was in ihrem Dorf los ist, aber es gelingt ihr nicht. „Hauptsache, wir sind alle in Sicherheit“, tröstet sie Marcus. „Komm, gleich haben wir es geschafft. Dort oben siehst du schon den Höhleneingang.“

Der Weg führt jetzt durch Geröll und über Grasmatten. Die Kinder sind erleichtert, dass der kleine Pfad frei von Schnee ist. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn man hier ausrutscht. Endlich erreichen die zwei das Ziel der Flucht: eine große Höhle. Die Frauen beider Familien sind schon gemeinsam damit beschäftigt, das gerettete Hab und Gut in der Höhle zu verstauen und die Tiere festzubinden.

„Gut gemacht, mein Sohn“, lobt Caius Terentius seinen Sohn, als Marcus den großen Rucksack und das Tragegestell am Höhleneingang ablegt. Er legt ihm seinen

Arm um die Schultern. „Hier sind wir erst einmal sicher.“

Marcus rollt seine Schlafmatte in einer Ecke der Höhle aus. Langsam beruhigt er sich ein bisschen. Annilio sitzt auf einem Bündel und lächelt ihm zu.

„Hier oben kommen wir einige Zeit über die Runden. Wir haben Essen, warme Kleidung und Werkzeuge. Wir können ein Feuer machen, ohne dass wir entdeckt werden, und es gibt eine Quelle.” Marcus‘ Mutter streicht ihm über den Kopf. „Und wir haben wunderbare Freunde, die uns rechtzeitig gewarnt haben.“

In den nächsten Wochen und Monaten vergeht ein Tag wie der andere. Die Kinder dürfen sich nicht zu weit von der Höhle entfernen, da Ario Bärenspuren entdeckt hat.

Außerdem sind die Hänge sehr steil, so dass sich beide Mütter einig sind und ein

Verbot ausgesprochen haben. Aus dem Tal steigen noch lange schwarze Rauchsäulen auf. Erst als es schon sommerlich warm ist, wagen es die Väter zusammen mit Annilios Brüdern, nach BERUNUM zurückzukehren und herauszufinden, was von ihren Häusern übriggeblieben ist. Nach drei Tagen sind die Männer wieder zurück.

„Unser Landgut ist zerstört“, berichtet Marcus‘ Vater wütend. „Sie haben alles mitgenommen, was wegzutragen war.“

„Das Dorf haben sie auch niedergebrannt“, ergänzt Annilios Vater mit zornig funkelnden Augen.

Das Leben in der Höhle hat die zwei Familien zusammengeschweißt. Deshalb beschließen Ateualus und Caius Terentius Praesentinus, die Väter von Annilio und Marcus, mit ihren Familien gemeinsam über die Berge Richtung Süden in eine sichere Gegend zu ziehen. So nehmen Marcus und Annilio schweren Herzens Abschied von ihrer Heimat. Wie froh sind sie darüber, dass sie sich nicht trennen müssen!

Anhang zu „Marcus und Annilio – Abenteuer in der Römerregion Chiemsee“

Erläuterungen der archäologisch-historischen Hintergründe von Andrea Krammer, M. A.

Die Abenteuer des schüchternen Römerjungen Marcus und pfiffigen Keltenmädchens Annilio führen Kinder lebendig und unterhaltsam an die Inhalte der Römerregion Chiemsee heran. Die archäologischen Befunde und Funde der einzelnen Stationen der Römerregion Chiemsee sind sehr vielfältig und decken thematisch und historisch einen weiten Rahmen der römerzeitlichen Epoche im Chiemgau ab. Die einzelnen Kapitel der Kindergeschichte beruhen auf diesen archäologisch-historischen Nachweisen entsprechend dem aktuellen Forschungsstand und wurden zum leichteren Verständnis für Kinder in eine zusammenhängende Geschichte eingearbeitet.

Die zwei Hauptfiguren erleben ihre Abenteuer in einem fiktiven Zeitraum, der in der archäologisch-historischen Realität einen Zeitrahmen von über 200 Jahren (um Christi Geburt bis ca. 260 nach Chr.) abdeckt. Die Episoden beschreiben Abenteuer der Kinder, wie sie sich vielleicht in der „Römerregion Chiemsee“ abgespielt haben könnten.

Die Hauptcharaktere der Geschichte, Marcus und Annilio, wurden bewusst „überzeichnet“ dargestellt, um die Unterschiede zwischen keltischer und römischer Kultur darzustellen. Das gemeinsame Erleben von Marcus und Annilio veranschaulicht das Miteinander von Kelten und Römern auf norischem Gebiet, das langfristig zu jener keltisch-römischen Mischkultur führte, wie sie in Noricum besonders charakteristisch war.

Um für Kinder die Wiedererkennung zu gewährleisten, war es wichtig, dass die Hauptfiguren sich äußerlich nicht verändern. So trägt Annilio die typisch keltische Mädchenkleidung mit Fibeln an den Schultern sowie Arm- und Fußringen. Tatsächlich ist diese Form der „Tracht“ bereits in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts nach Chr. in der Chiemseeregion allmählich verschwunden. „Tracht“ war schon zur Kelten- und Römerzeit eine sozial- und anlassgebundene Kleidung, über die ein individueller Bezug zwischen dem Einzelnen und einer Gruppe hergestellt werden konnte. Zugleich war sie seit jeher einer zeitlichen und stilistischen Entwicklung unterworfen. Ab der Mitte des 1. Jahrhunderts nach Chr. wurde in der Chiemseeregion die sog. „norisch-pannonische Frauentracht“ getragen, die bis weit in das 3. Jahrhundert nach Chr. Teile der keltischen Traditionen bewahrte.

Fachliche Erläuterungen zu Namen und Beschreibungen in der Reihenfolge ihres Erscheinens:

Marcus

ein typischer römischer Jungenname. Wurde gewählt, da der Name heute noch gebräuchlich ist, um die Identifikation mit einer der Hauptfiguren für die Kinder zu erleichtern

Annilio

Mädchenname, belegt auf einem Grabstein aus Seebruck, der dort auch im Römermuseum ausgestellt ist. Annilio wird in der Fachliteratur, trotz der maskulinen Endung auf -o, bisher als einheimischer, also keltischer, Mädchenname interpretiert.

Online-Literatur: http: //lupa. at/1129

Lucius Terentius Verus (Marcus´ Großvater)

Name eines römischen Bürgermeisters der Stadt TEURNIA (heutiges St. Peter in Holz in Kärnten, Österreich), der auf einem in Bernau gefundenen Grabstein genannt wurde.

Online-Literatur: http: //lupa. at/4484

Caius Terentius Praesentinus (Marcus´ Vater)

Sohn des Lucius Terentius Verus gemäß dem Bernauer Grabstein. Online-Literatur: http: //lupa. at/4484

Iulia Romana (Marcus´Mutter)

Nicht in der „Römerregion Chiemsee“ belegt. Iulia ist ein typisch römischer Vorname, der heute noch als „Julia“ gebräuchlich ist.

Bärensippe

Erfundener Name, angeregt durch die Bezeichnung des Bernauer Ortsteils „Irschen“, der auf „ursus“ (lat.: Bär) zurückgeführt wird.

Kapitel I: Bernau – Baden auf römische Art

Tulia (Dienerin), Ario (Annilios Bruder) Nicht in der „Römerregion Chiemsee“ belegt.

Kapitel II: Prien – Ein Ausflug auf dem See

Lucius Terentius Verinus (Marcus´ Onkel)

Zweiter Sohn des Lucius Terentius Verus gemäß dem Bernauer Grabstein. Online-Literatur: http: //lupa. at/4484

BERUNUM

Nicht belegter vorgeschichtlicher Name für Bernau, wird von Johannes Aventin 1521 in seinem Geschichtswerk „Annalium Boiorum“ verwendet.

IUVAVUM

auf Inschriften belegter römerzeitlicher Name für das heutige Salzburg. Online-Literatur: http: //iuvavum. org/iuvavum/iuvavum_gebiet. php

Kapitel III: Bergen – Das beste Eisen der Welt

Bedaius (keltisch-römischer Gott)

Belegt auf mehreren Inschriften der „Römerregion Chiemsee“ (v. a. Chieming und Pittenhart). Das Heiligtum des Bedaius stand in Bedaium, dem heutigen Seebruck. Der Bedaiuskult ist ein eindrucksvoller Beweis der keltisch-römischen „Mischkultur“ in Noricum. Eine ursprünglich keltische Gottheit (vermutlich Wassergott) wurde in römischer Kulttradition mit Weihealtären und lateinischen Inschriften noch über 200 Jahre verehrt, nachdem das Gebiet „römisch besetzt“ wurde.

Ateualus (Annilios Vater), Bellicius (der Schmied) Nicht in der „Römerregion Chiemsee“ belegt.

Kapitel IV: Pittenhart – Ein uraltes Heiligtum

Wissenschaftliche Untersuchungen der Funde ergaben, dass das Plateau des Höhenberges ab ca. 1.200 vor Chr. (ältere Urnenfelderzeit) bis circa 250 nach Chr. (späte Römerzeit) als Opferplatz genutzt wurde - eine ungewöhnlich lange Nutzungszeit für einen Kultort. Welchen Gottheiten dort nahe der Römerstraße gehuldigt wurde, ist bisher nicht bekannt.

Hauptsächlich wurden dort Gewandnadeln, Fibeln und Nägel gefunden. Diese Fundzusammensetzung deutet auf einen „Kleiderkult“. Solche Kulttraditionen, bei denen

Kleidungsstücke mitsamt Trachtelementen, wie etwa Fibeln an Bretter genagelt und so den Gottheiten geopfert wurden, sind beispielsweise auch aus Gallien, im heutigen Frankreich, bekannt.

Dieser Ort sollte wegen seiner außergewöhnlichen Funde in der „Römerregion Chiemsee“ behandelt werden. Daher entschied man sich, eine Episode der Kindergeschichte dort spielen zu lassen. Die hier beschriebene „Kleiderkult-Theorie“ erhebt allerdings keinerlei Anspruch auf wissenschaftliche Bestätigung.

Matulus (Annilios Bruder), Ategenta (Annilios Mutter) Nicht in der „Römerregion Chiemsee“ belegt.

Alaunen

Die Alaunen waren weibliche Lokalgottheiten, die vom keltischen Stamm der in Noricum ansässigen Alauni verehrt wurden und ihr Heiligtum mit dem am Chiemsee ansässigen Gott Bedaius teilten. Die Zuständigkeiten dieser regionalen Gottheiten sind unbekannt, wir kennen sie nur aus vier Inschriften, alle aus der näheren Umgebung des Chiemsees.

Kapitel V: Grabenstätt – Fußböden aus bunten Steinchen

Lastenkräne sind für den Bau von Gebäuden eines Gutshofes archäologisch bisher nicht nachgewiesen. Sicher ist allerdings eine Verwendung in Städten und bei Militärbauten (Quadermauern). Die Verwendung von eindrucksvollen Baumaschinen sollte die technische Überlegenheit der Römer veranschaulichen.

AELIA AUGUSTA

Auf Inschriften belegter römerzeitlicher Name für das heutige Augsburg

Publius Seppius Severus (Gutsbesitzer Grabenstätt)

Name eines römischen Bürgermeisters von IUVAVUM, dem heutigen Salzburg. Inschriftlich nachgewiesen auf einem Grabsteinfragment, das in Chieming gefunden wurde und dort in der Eingangshalle des Rathauses ausgestellt ist.

Online-Literatur: http: //lupa. at/25007

Literatur: Krammer - Steidl, Bayer. Vorgeschichtsblätter 82, 2017, 111 - 137; E. Pochmarski - I. Weber-Hiden, in: Akten des 15. Internat. Kolloquiums zum Provinzialröm. Kunstschaffen 2017 (2019), 342 Nr. 48

Kapitel VI: Breitbrunn – Ochsen pflügen leichter

Rezept Melomeli

Für vier Personen:

1 kg Quitten

¼ l Wasser

4 EL Honig Zubereitung:

Quitten waschen, trockenreiben, schälen, Kernhaus entfernen und in kleine Scheiben schneiden. In Wasser ca. 30 Minuten kochen, Honig dazugeben und nochmals 15 min. ziehen lassen.

Quelle: H.-P. v. Peschke u. W. Feldmann, Kochen wie die alten Römer (Düsseldorf/Zürich 1998), S. 263.

Gaius Septimius (Gutsbesitzer Breitbrunn) Nicht in der „Römerregion Chiemsee“ belegt.

Claudia (Marcus´ Schwester)

Typisch römischer Mädchenname, der heute noch gebräuchlich ist.

TEURNIA

Auf Inschriften belegter römerzeitlicher Name für das heutige St. Peter in Holz in Kärnten, Österreich (siehe auch Kapitel I Bernau: Lucius Terentius Verus)

Kapitel VII: Bad Endorf – Römische Nachrichten auf Papyrus

Schriftliche Botschaften auf Papyrus, die vom italischen Mutterland über die Alpen nach Noricum gelangten, sind bisher archäologisch nicht belegt. Von einem regen Austausch unter Verwandten, Geschäftspartnern und Bekannten zwischen den verschiedenen Regionen des Römischen Reiches kann jedoch ausgegangen werden. Das Christentum ist in Noricum mit der Tätigkeit des hl. Severin im 5. Jahrhundert nach Chr. belegt, in der Chiemseeregion allerdings erst mit der Klostergründung auf der Herreninsel im 7.

Jahrhundert nach Chr. und dem Wirken des Hl. Rupert in Salzburg im 8. Jahrhundert nach Chr. historisch und archäologisch fassbar. Trotzdem muss davon ausgegangen werden, dass es schon lange vor der Erhebung zur Staatsreligion unter Kaiser Theodosius I. (380 n. Chr.) im römischen Reich bekannt war

Quintus Publius Victorinus (Gutsbesitzer Bad Endorf)

Nicht in der „Römerregion Chiemsee“ belegt

Kapitel IX: Chieming – Römer lieben Inschriften

Publius Seppius Severus (siehe Kapitel V Grabenstätt)

Acutus (Knecht)

Nicht in der „Römerregion Chiemsee“ belegt. In den römischen Provinzen nicht selten.

Marcus und Annilio

Abenteuer in der Römerregion Chiemsee

Eine Geschichte in XI Kapiteln geschrieben von Annette Marquard-Mois

Anhang:

Erläuterungen der archäologisch-historischen Hintergründe von Andrea Krammer, M. A.

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nach Ideen von René Adler